Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
zu haben, dass der Junge ihm sein Bad vorbereitet hatte.
»Das ist alles, Joseph«, murmelte er, während er in das heiße Wasser stieg. »Oh, noch etwas. Miss Ryan schläft im Gästezimmer nebenan und darf nicht gestört werden, bis sie läutet.«
»Aber sie ist doch schon lange auf, Sir.«
Mit geröteten Augen sah John den Jungen an. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Sir?«
»Nichts, Joseph. Gar nichts.«
»Sir?«, begann der Junge nun etwas mutiger, als er Johns geschwächten Zustand bemerkte. »Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut, was mit Ihrem kleinen Bruder …«
John schloss die Augen.
»… Sie haben ihn sehr geliebt. Das wussten wir alle. Nun ja, ich wollte nur sagen, wie traurig wir sind …«
John konnte kein Wort herausbringen. Wie sollte er diese Beileidsbekundungen überleben, diese ständigen Erinnerungen, die ihm ans Herz griffen?
»Joseph …«, stieß er mit rauer Stimme hervor, als der Junge schon an der Tür war.
»Ja, Sir?«
»Vielen Dank.«
»Ja, Sir.« Der Junge nickte. Dann verließ er den Raum, und John griff zu Bürste und Seife.
»So ist es richtig, Jeannette. Weine nur, bis du alle Tränen vergossen hast. Dann geht es dir besser.«
»Es wird mir nie mehr besser gehen!«, schluchzte das Mädchen.
Aber Charmaine tröstete sie. »Das denkst du jetzt, aber später wirst du auch wieder lachen, wenn du dich an Pierre erinnerst, wenn du an die glücklichen Tage denkst, die wir zusammen erlebt haben …«
John presste die Stirn gegen die geschlossene Tür. Er sollte eigentlich hineingehen und seine Schwestern trösten, wie Charmaine das tat, aber er brachte es nicht über sich. Sein eigener Schmerz war noch zu groß, noch zu frisch …
»Aber warum musste er sterben?«, schluchzte Jeannette.
»Vielleicht hat Gott ihn bestraft, weil er sich am Sonntag nur krank gestellt hat.«
»Yvette!«, mahnte Charmaine. »Du weißt, dass das nicht wahr ist!«
Das Mädchen brach in Tränen aus. Eine Weile war nichts zu hören, und dann hörte er Charmaines Stimme, konnte die Worte jedoch nicht verstehen, obwohl er sich Mühe gab.
Dann wieder Jeannette: »Warum hat Gott uns das angetan? War ihm Mama denn nicht genug?«
»Oh, Jeannette, darauf gibt es keine Antwort. Aber ihr habt doch noch euch, und ihr habt mich. Und ihr wisst, dass ich euch sehr, sehr liebe, nicht wahr?«
»Ja«, antworteten zwei bebende Stimmchen.
»Und ihr habt John. Er braucht eure Liebe jetzt mehr denn je.«
»Warum?«
»Weil er Pierre lieb hatte und genauso traurig ist wie ihr. Wenn wir einander beistehen, wird die Wunde eines Tages heilen, und der Schmerz wird vergehen. Dann lacht ihr, wenn ihr an euren Bruder denkt. › Wisst ihr noch, als er John beim Picknick am Strand Sand auf den Kopf gestreut hat? ‹ , werdet ihr sagen, oder …« Charmaines Stimme brach ab.
»Es ist schon gut, Mademoiselle«, hörte er Jeannette sagen. »Sie haben Pierre genauso sehr geliebt wie wir. Wegen uns müssen Sie jetzt nicht tapfer sein.«
»Sie müssen auch weinen«, sagte Yvette.
»Aber nein, ich habe schon viel zu viel geweint.«
Mit gesenktem Kopf löste sich John von der Tür und schlich davon.
»Sie sind entlassen, Miss Ryan. Ihre Dienste werden nicht länger benötigt.«
Mit offenem Mund starrte Charmaine Mrs. Duvoisin an.
»Tun Sie doch nicht so überrascht, meine Liebe! Und schließen Sie den Mund. Das sieht höchst unvorteilhaft aus.«
»Aber … warum?«
»Das fragen Sie nicht im Ernst, oder? Es liegt doch auf der Hand. Pierre ist tot.«
Charmaine zuckte zusammen. Über den Tod des Jungen zu sprechen, war eine Sache, aber es aus anderem Mund zu hören, war herzlos. »Wann soll ich gehen?«
»Sie haben Zeit bis zum Wochenende.«
»Aber das … das ist …«
»Morgen«, ergänzte Agatha ungerührt.
»Und wenn ich mich weigere?«, fragte Charmaine, als sie den ersten Schrecken überwunden hatte.
»Weigern? Meine Liebe, in dieser Beziehung haben Sie, fürchte ich, nichts zu sagen.«
»Und wer hat etwas zu sagen, Mrs. Duvoisin? Sie etwa? Weiß sonst noch jemand von dieser Entscheidung? Ihr Mann vielleicht? Oder Paul? Sollte ich das nicht lieber mit ihnen besprechen?«
»Glauben Sie wirklich, dass Paul die Autorität seines Vaters wegen einer kleinen Schlampe wie Ihnen anzweifelt, Miss Ryan? Inzwischen hat er Sie doch längst satt.«
»Sie sind eine niederträchtige Person!«
»Und Sie eine Närrin«, zischte Agatha. »Aber Sie haben zum letzten Mal so mit mir geredet! Sie haben den Tod eines
Weitere Kostenlose Bücher