Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
auf dem Korridor. Im nächsten Augenblick stürmte John herein und knallte die Tür hinter sich ins Schloss.
»Du Mistkerl!«, schrie er, als er Charmaines tränennasses Gesicht gewahrte. »Weidest du dich an ihrem Unglück? Wie grausam du bist!«
Frederic runzelte die Stirn. »Wovon, um alles in der Welt, redest du?«
»Das solltest besser du mir sagen! Warum hast du kein Wort davon erwähnt?«
Charmaine sprang auf. »John, hören Sie mir zu!«
Ihre Bitte traf auf taube Ohren. Vor Wut schien er sie gar nicht zu sehen. »Es macht dir offenbar Freude, Frauen weinen zu sehen! Du fühlst dich dann mächtiger, was?«
Mit geballten Fäusten schoss Frederic in die Höhe. Agathas Sätze hallten in seinem Kopf wider. »Ich weiß nicht, was du mir unterstellst, John, aber …«
»Aber was, Vater? Was verstehe ich nicht? Ich sage dir, was ich nicht verstehe … Wie kannst du deinen Kindern nur alle Zuneigung und Liebe rauben? Willst du die Mädchen verletzen? Oder soll es mich treffen? Ist das dein Ziel? Mit Pierre ist es dir ja schon gelungen, nicht wahr? Verdammt.«
Frederic wurde leichenblass. Gegen Johns hasserfüllte Miene waren selbst diese ungeheuerlichen Worte unwichtig. »John, es tut mir entsetzlich leid, dass Pierre … Ich wollte doch niemals …«
»Sprich es bloß nicht aus! Sag einfach gar nichts! Ich glaube dir kein Wort! Pierre war auch nur ein Stein in deinem raffinierten Spiel um Macht und …«
»Bitte, John, das ist alles nur ein Missverständnis!«, unterbrach ihn Charmaine und trat mutig zwischen Vater und Sohn.
John schien sie zum ersten Mal wahrzunehmen. »Nein, Charmaine, das verstehen Sie nicht! Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass mein Vater ein Meister der Manipulation ist. Pierre war ein wertvoller Stein in seinem Spiel, ein überaus wertvoller Stein, weil er mein …«
»Pass auf, was du vor der Gouvernante sagst, John!«
»Und weshalb, Vater? Hast du Angst, dass sie merkt, für was für einen Teufel sie arbeitet?«
»John!« Charmaine schnappte nach Luft. »Bitte, sagen Sie nichts …«
»Außerdem kennt sie längst die ganze Geschichte«, kam John ihrem Protest zuvor.
»Du hast also deine intimsten Geheimnisse mit einer Angestellten diskutiert?«
John lachte leise. »Da diese Angestellte größeres Mitgefühl besitzt als die eigene Familie – ja. Charmaine weiß, dass Colette einen Ehemann und gleichzeitig einen Liebhaber hatte. Aber sie weiß nicht, dass der Liebhaber eigentlich der Ehemann hätte sein sollen!«
»Es reicht!«, fuhr Frederic auf. »Ich will, dass du mein Zimmer verlässt. Und zwar sofort.«
»Ich denke nicht daran. Zuvor will ich wissen, warum Charmaine entlassen wurde. Warum, verdammt?«
»Aber ich wurde doch gar nicht entlassen«, widersprach Charmaine überrascht.
Aber John hörte sie nicht. »Mir wolltest du die Mädchen nicht geben, als ich dich darum gebeten habe, aber ein Internat ist gut genug für sie! Ist das die Liebe und Zuneigung, die sie von dir zu erwarten haben? Oder ist das wieder eine Möglichkeit, um Colette zu bestrafen? Willst du sie immer noch strafen, obwohl sie längst im Grab liegt? Verdammt! Du sollst zur Hölle fahren!«
»John, hör auf! Ich bitte dich, hör auf!«
»Nicht, bevor du mir antwortest! Du hast Colette an dich gefesselt, weil du ihre Töchter nicht gehen lassen wolltest. Mit mir hast du dasselbe versucht … und nun schickst du sie einfach weg? Wirfst sie weg, weil sie dir nicht länger von Nutzen sind?«
»John, ich habe nie die Absicht gehabt, sie wegzuschicken. Ich wollte …«
»Lügner! Du lügst, sobald du den Mund aufmachst. Gott, wie ich diese Lügen hasse! Wie ich dich hasse! Wie kannst du nur immer weiter lügen … mich belügen … Colette belügen?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!«
»Ach nein? Colette hat mich geliebt. Mich! Wir wollten heiraten! Aber irgendwie ist es dir gelungen, dass sie ihr Versprechen gebrochen hat!«
Charmaine schnappte nach Luft.
»Das ist die Wahrheit, Charmaine. Ich kannte Colette als Erster, aber mein Vater hat ihr eingeredet, dass ich nichts tauge, dass ich kein Vermögen besitze außer dem, was er mir eines Tages vererbt. Der große Frederic Duvoisin dagegen konnte ihre Familie unterstützen, sie aus der Armut erlösen. Colette hat sich für ihren verkrüppelten Bruder geopfert. Aber was hat sie davon gehabt … außer einem verkrüppelten Ehemann?«
»Es ging nicht nur ums Geld, John«, entgegnete sein Vater betrübt.
»Worum denn dann? Etwa um
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