Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
unschuldigen Kindes auf dem Gewissen! Mein Mann hat seinen Irrtum endlich eingesehen. Die Zwillinge kommen in ein englisches Internat und brauchen keine Gouvernante mehr.«
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»O doch, Miss Ryan. Mein Mann hatte drei Tage lang Zeit, um über das Wohlergehen seiner Kinder nachzudenken. Er hat alle Möglichkeiten gründlich durchdacht. Als ich heute Morgen mit ihm sprach, hat er darum gebeten, dass Sie ihn aufsuchen. Er möchte mit Ihnen sprechen.«
Charmaine riss die Augen auf.
»Ja, Miss Ryan, es ist seine Entscheidung, nicht meine«, erklärte sie mit hochgezogenen Brauen. »Ich warne Sie, er ist nicht mit Ihnen zufrieden. Ganz und gar nicht.«
Charmaine erbleichte.
Die Tür fiel ins Schloss, und Agatha war wieder allein. Sie lächelte zufrieden. Sie hatte alles richtig gemacht, hatte genau die wundesten Punkte getroffen. Im Augenblick stand Charmaine voller Wut über diese ungerechte Behandlung vor Frederic und würde, so Agatha das Glück hold war, ihre Grenzen überschreiten und ihr Schicksal selbst besiegeln. Aber was noch wichtiger war: Sie konnte endlich die entscheidende Konfrontation zwischen Vater und Sohn in Gang setzen.
Doch einen Augenblick zögerte sie noch. Was, wenn Frederic einen neuen Anfall erlitt? Schlimmer noch – wenn die Sache ein fatales Ende nahm? Im nächsten Moment wischte sie die Bedenken entschlossen beiseite. Dieses Risiko musste sie eingehen.
Ihr Blick wurde hart. Sie durfte keine Zeit verlieren. Miss Ryans Unterredung mit Frederic dauerte nicht ewig. Jetzt zählte jede Sekunde. Es war an der Zeit, mit den Zwillingen zu reden. Vor allem mit Yvette. Sicher war sie entsetzt, wenn sie erfuhr, dass ihr Vater ihre geliebte Mademoiselle zu sich gerufen hatte, um sie zu entlassen – und natürlich würde sie sofort zu John rennen und ihn zu unüberlegten Aktionen veranlassen … Vorsorglich hatte sie sichergestellt, dass John sich im Haus befand. Wenn er in die Räume seines Vaters stürmte, war die Frage nach der Wahrheit gegenstandslos. Dann zählte allein der Hass, der ihr nur zu vertraut war. Und Frederic würde trotz seiner guten Vorsätze den entscheidenden Schlag führen …
Charmaines Hände waren feucht, und ihr Magen schmerzte. Wo war nur ihre Wut? Als sie das Zimmer des Hausherrn betrat, löste diese sich gänzlich in Luft auf. So, wie Tautropfen in der Glut der Hölle verdampften. Ihr verfluchtes Temperament! Agatha hatte sie hereingelegt.
Doch der Mann, dem sie gegenüberstand, hatte keine Ähnlichkeit mit dem Teufel. Und Hörner oder Klauen besaß er auch nicht. Nur eine Krücke, um sich fortzubewegen. Sein Körper schien geschrumpft zu sein. Dies war kein Mann, der aus Verachtung einen Sohn von sich stieß und den anderen in seine Arme schloss. Der Verstand sagte ihr, dass beide Seiten Schuld auf sich geladen hatten und auch John gefehlt hatte. Aber John hatte auch geliebt … Doch wo war Frederics Liebe?
Sofort bedauerte Charmaine ihr schnelles Urteil. Frederic hattePierre geliebt! Um das zu wissen, musste sie ihn nur ansehen. Er konnte zwar nicht mit dem Jungen herumtoben, aber er hatte ihn geliebt und große Ängste durchlebt, dass John ihn einfach mitnehmen könnte. Mit einem Mal machte alles Sinn. Frederic hatte nie mit dieser Liebe geprotzt, um sich seinen Sohn nicht noch mehr zu entfremden, und sie in seinem Herzen verschlossen. Ob John das jemals begreifen würde? Frederic schien ausgerechnet diejenigen vor den Kopf zu stoßen, die ihm eigentlich am nächsten stehen sollten, doch nun hatte sich der alte Mann in eine Ecke manövriert, aus der es keinen Ausweg gab.
Frederic betrachtete Charmaine genauso eindringlich, wie sie ihn ansah, und suchte in ihrem Gesicht nach Spuren ihrer Trauer. Es dauerte einen Augenblick, bis sie merkte, dass er sie angesprochen hatte. »Wie geht es Ihnen?«
Der besorgte Ton der Frage überraschte sie.
»So gut, wie das unter diesen Umständen möglich ist«, murmelte sie und war froh, dass er nicht ahnte, was sie inzwischen über Pierres Herkunft wusste. »Das alles tut mir entsetzlich leid.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Charmaine. Es war ein grauenhafter Unfall, und niemand, am wenigsten Sie, sind daran schuld. Ihr Mitgefühl nehme ich allerdings gern entgegen.«
Sie nickte, dann räusperte sie sich und kam direkt auf ihr Anliegen zu sprechen. »Gibt es einen Grund, weshalb Sie mich sprechen wollten, Sir?«
»Ja, den gibt es. Aber dazu wollen wir uns lieber setzen.« Er deutete auf
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