Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Kinder hinüber, »dass Paul sich schrecklich vor Cookie gefürchtet hat, als sie zu uns kam?«
»Warum?«
»Als die Köchin eingestellt wurde, waren wir noch ziemlich klein – ungefähr fünf oder sechs Jahre alt. Paul hielt Cookie für den Boo-Bock.«
»Wer ist der Boo-Bock?«
»Ein Monster, natürlich«, erklärte John und erzählte dann eine längere Geschichte davon, wie er Paul eingeredet hatte, dass die freundliche Cookie ihn vergiften wollte. Wie gebannt hingen die Kinder an seinen Lippen und lachten hin und wieder – ganz besonders, wenn ihr Vater Paul mit der Rute drohte, falls er sich weiter so respektlos benahm. Charmaine wusste zwar, dass die Geschichte als Ablenkung gedacht war, doch sie ahnte, dass keine dieser Grausamkeiten erfunden war.
John bemerkte ihre verächtliche Miene. »Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen, dass Paul sich mit ähnlichen Streichen schadlos gehalten hat.«
»Kein Wunder, nach dieser erfolgreichen Lehrstunde!«
»Das ist wahr. Es tut mir leid, wenn Ihnen meine Geschichte nicht gefallen hat.«
Charmaine bedauerte ihre Bemerkung. »Es tut mir leid, aber ich habe keine Brüder und kann vielleicht nicht beurteilen, wie Jungen sich benehmen. Ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihre Hilfe.«
»Nun gut, dabei wollen wir es belassen.« John zwinkerte den Mädchen zu.
»Wenn du da bist, fürchte ich mich überhaupt nicht mehr«, sagte Jeannette. »Kannst du nicht heute Nacht hier schlafen, Johnny?«
»Und wo, wenn ich fragen darf?«
»In Pierres Bett. Ihm macht das bestimmt nichts aus. Nicht wahr, Pierre?«
Der Kleine schüttelte schlaftrunken den Kopf. »Nein. Das macht mir nichts aus.«
»Siehst du? Bitte, bleib hier!«
John tat, als ob er überlegen müsste, und Charmaines Sorge wuchs, als sie an die Verbindungstür und den leichten Zugang zu ihrem Zimmer dachte.
»Das war ganz schön unfair. Ihr habt es eurem Bruder eingeredet.«
»Das stimmt nicht«, wehrte sich der Kleine, dessen Bäckchen im Lampenlicht rosig schimmerten. »Ich will es auch.«
Charmaine wartete auf Johns Antwort und beobachtete gerührt, welche Sanftheit, ja, Verletzlichkeit sich auf seinen Zügen malte. »Offenbar bin ich überstimmt. Wenn Miss Ryan keine Einwände hat, muss ich wohl hierbleiben.« Er sah sie an.
Unter seinem prüfenden Blick schlang sie die Arme um sich. »Ich habe nichts dagegen«, murmelte sie.
Er nickte und wandte sich ab. In diesem Augenblick war er seinem Vater unglaublich ähnlich – dieselbe magnetische Ausstrahlung. Es war beinahe unheimlich. John und Frederic sind sich in vielem ähnlich … aber sie würden es beide vehement bestreiten, sobald jemand das laut ausspricht . Kein Wunder, dass sie so oft aneinandergerieten. Zwei so starke Persönlichkeiten in einer Familie konnten wahrscheinlich nur schwer miteinander auskommen, ohne dass es zu Auseinandersetzungen kam.
Diese Einsicht bewog Charmaine, sich den Mann noch einmal näher anzusehen. Er saß neben Pierre auf dem Bett und zog seine Stiefel aus. Rein äußerlich hatte John große Ähnlichkeiten mit seinem Vater: dasselbe dichte Haar, ein ausgeprägtes Kinn, eine scharfe Nase und schmale Lippen. So gesehen war auch Paul unverkennbar ein Duvoisin. Doch im Gegensatz zu John besaß er charakterlich so gut wie keine Ähnlichkeit mit seinem Vater. Mit Johns Selbstsicherheit und Zielstrebigkeit konnte Paul nur schwer mithalten.
John nestelte an seiner Gürtelschnalle. »Wollen Sie mich noch ins Bett bringen, my charm ? Oder darf ich auf etwas Diskretion hoffen?«
Die Zwillinge kicherten, und Charmaine lief feuerrot an, als ihr bewusst wurde, wie ungeniert sie ihn angestarrt hatte. »Ich … es … es tut mir entsetzlich leid!«, stotterte sie. »Ich wollte … ich meine, ich wollte Sie doch nicht …«
»Dessen bin ich sicher«, unterbrach er sie lachend.
Als sie merkte, dass er im Begriff stand, sein Hemd auszuziehen, eilte sie zur Tür. Doch als sie sich kurz umsah, um den Kindern eine gute Nacht zu wünschen, stellte sie fest, dass er das Hemd nur aus der Hose gezogen und sich bereits neben Pierre ausgestreckt hatte.
»Wir kampieren heute zusammen, mein Kleiner.«
So leicht brachte man sie nicht in Verlegenheit! Entschlossen ging Charmaine zu Jeannettes Bett hinüber. »Ich will dich nur noch schnell zudecken.« Mit diesen Worten zog sie die Decke nach oben und gab dem Mädchen einen Kuss. Dann war Yvette an der Reihe. »Und dass ihr nicht mehr redet«, ermahnte sie die Kinder leise. Dann trat
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