Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Mädchen John zu ihren Schreibpulten gelockt hatten und er seine Aufmerksamkeit unter den Kindern aufteilen musste.
Anfangs hatte Charmaine John keinen Einblick in ihren bisherigen Unterrichtsstoff gewähren wollen, weil sie Kritik an ihrem unvollkommenen Wissen fürchtete. Doch John schien das alles gar nicht zu interessieren. Stattdessen entführte er die Kinder auf Phantasiereisen in unerforschte Gebiete und weckte ihre Neugier, indem er einen atemberaubenden Teppich aus rätselhaften Tatsachen und neuen Erkenntnissen wob. Sie fuhren mit der Dampflokomotive von Richmond nach Washington, wo sie in einen Heißluftballon kletterten und die restliche Strecke nach New York zurücklegten. Dort besuchten sie ein Baseballspiel, aßen mitten im August ein Eis und fuhren mit dem Omnibus zum Zirkus, wo sie eine Meerjungfrau und einen Mann mit zwei Köpfen bewunderten. Anschließend verlegte sich John auf seltsame Geschichten, die er in Versen vortrug, und als ihm kein Reim mehr einfallen wollte, erfand er einfach neue Wörter, bis das Lachen der Kinder von den Wänden widerhallte und ihre Gesichter vor Begeisterung leuchteten.
Als sich der Unterricht dem Ende näherte, war Charmaine tief beeindruckt. Sie hatte noch nie erlebt, dass sich ein Mann so auf Kinder einließ, wie John das tat. Er hatte ihre Herzen von Neuem erobert, wenn das überhaupt möglich war. Die Kinder profitierten von seinem Wissen, und er konnte sich in die Oase ihrer Zuneigung flüchten, wenn ihm von allen Seiten Abneigung entgegenschlug.
Charmaine war begeistert davon, wie John die Kinder fesselte. Sie hatte sie noch nie so glücklich erlebt – nicht einmal zu Colettes Lebzeiten. Neidlos musste sie anerkennen, dass er der bessere Lehrer war. Doch wie hätte sie auch mit ihm konkurrieren können? Und wollte sie das überhaupt? Sein Alter, seine Lebenserfahrung und das Privileg eines großen Vermögens waren Vorteile, die ihn zum idealen Lehrer für die Mädchen machten – und genauso für Pierre.
Als die Zwillinge John am Ende des Unterrichts baten, am nächsten Tag wieder mit ihnen zu lernen, sah er Charmaine an und wartete stumm auf ihre Zustimmung. Ihre Zustimmung! Fast hätte sie gelacht. Er hatte ihr Einverständnis doch gar nicht nötig. Warum also hatte er sie trotzdem angesehen? Woher rührte der plötzliche Respekt? Was war der Grund für sein verändertes Benehmen?
Je länger sie überlegte, desto verwirrter wurde sie. War Pierres Misshandlung der Grund, dass John sie plötzlich wie eine Lady behandelte? Zumindest war dieser Vorfall der Wendepunkt gewesen, dachte sie. Vom ersten Tag an hatte John sie für eines von Pauls billigen Mädchen gehalten, doch was hatte ihn inzwischen anderen Sinnes werden lassen?
Was auch immer der Grund war – sie hatte jedenfalls nicht die Absicht, ihr Glück zu hinterfragen. Und sie wollte es auch nicht gefährden, indem sie John vom Unterricht ausschloss. Solange er sie gut behandelte, würde sie seine Freundlichkeit erwidern. Zumindest verhieß der heutige Tag eine bessere Zukunft!
Freitag, 1. September 1837
Kurz vor Mitternacht öffneten sich die französischen Türen ein weiteres Mal auf geheimnisvolle Weise. Zitternd vor Angst rannte Jeannette zu Charmaine hinüber.
»Vielleicht hat Yvette ja die Tür geöffnet«, vermutete Charmaine. »Heute war es schließlich furchtbar heiß.«
»Das habe ich nicht gemacht!«
Nach Charmaines Geschmack kam der Widerspruch aus dem Nachbarzimmer etwas zu schnell. Dieselbe Szene hatten sie bereits vor zwei Wochen erlebt. Sicher war das Ganze nur ein Streich. In letzter Zeit spukten nicht nur Monster und Vampire in den Köpfen der Mädchen herum, sondern seit Neuestem auch Geister.
Mit einem Seufzer scheuchte die Gouvernante Jeannette zurück ins Bett und sah Yvette eindringlich an.
»Sie glauben, dass ich die Tür aufgemacht habe, nicht wahr?«
»Ich glaube, dass du Joseph beweisen wolltest, dass er feige ist und sich vor Geistern fürchtet.«
Yvette verschränkte die Arme und stritt alles ab.
Charmaine glaubte ihr kein Wort, aber Jeannette tat es und war kaum zu beruhigen. Als Schritte auf dem Korridor zu hören waren, fasste Charmaine den Entschluss, sich Hilfe zu holen. »Wenn dein Bruder sagt, dass es keine Geister gibt, glaubst du es dann?«
Es erfolgte ein halbherziges Nicken.
Charmaine sah auf Pierre hinunter, der sein kleines Stofflamm umschlungen hielt. Er schlief tief und fest und hatte von der Aufregung nichts mitbekommen. Rasch
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