Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Verandatüren gestarrt, als ob Colettes Geist jederzeit hereinschweben könnte.
Samstag, 2. September 1837
Zu ihrer Überraschung erwachte Charmaine am nächsten Morgen so zeitig, dass sie hörte, wie Paul beim ersten Dämmerlicht nach unten schlich, um seinen Arbeitstag zu beginnen. Kurzerhand schlug sie die Decke zurück. Sie wollte mit ihm frühstücken. Vielleicht konnte er ja etwas Licht in die Kette der phantastischen Ereignisse bringen, die sie in der vergangenen Nacht in Atem gehalten hatten. Sicher würde Paul besonnener reagieren als John und ihr lachend eine logische Erklärung für alles präsentieren.
Beim Anziehen fragte sie sich, ob John wohl die ganze Nacht bei den Kindern geschlafen hatte. Lautlos schlich sie zur Verbindungstür und spähte vorsichtig nach nebenan. Alle vier schliefen noch tief und fest. Der kleine Pierre lag in Johns Armen, und sein Rücken drückte sich gegen seine Brust. Als Ersatz für das Lämmchen, das wieder auf dem Boden lag, umklammerte er die Hand seines großen Bruders.
Charmaine war von der Ähnlichkeit der beiden überwältigt. Pierre hatte zwar eher die Haarfarbe seiner Mutter geerbt, aber der Schnitt ihrer Gesichter und ihrer mandelförmigen Augen – Frederics Augen – war beinahe identisch. Johns Gesicht war völlig entspannt und wirkte überraschend jugendlich. Sie sah, wie sein gleichmäßiger Atem die zarten Löckchen auf Pierres Kopf bewegte, und dann wanderte ihr Blick weiter zu den beiden Händen, zu Johns sonnengebräunter und Pierres zartweißer Hand, die einander stark und zärtlich zugleich umfassten.
Vorsichtig wollte sie die Tür schließen und erstarrte, als die Angeln vernehmlich quietschten. Pierre erwachte von dem Geräusch und drehte sich um. Als er John in seinem Bett liegen sah, setzte er sich auf. Und dann beugte er sich ganz nah zu seinem Bruder hinunter und versuchte, eines seiner Augen zu öffnen. John rollte sich auf den Bauch und vergrub sein Gesicht unter dem Kissen, woraufhin der Dreijährige sofort auf seinen Rücken stieg.
»Gnade, Pierre«, stöhnte John, als der Kleine munter auf und ab hopste. »Wenn ich ein Pferd wäre, hätte ich im Stall geschlafen!«
Charmaine unterdrückte ein Kichern. Pierre rutschte von John herunter und quetschte sich in den Spalt zwischen seinem Bruder und der Wand. Dann schob er den Daumen in den Mund und kniff die Lider zusammen.
Als Charmaine ins Speisezimmer kam, saß Paul allein am Tisch, trank seinen Kaffee und las die Zeitung. Bei ihrem Anblick huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Welche Überraschung! Weshalb sind Sie denn schon so früh am Tag aus den Federn?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie, beeindruckt von seinem Charme. »Ich nehme an, ich konnte einfach nicht mehr schlafen.« Dumme Antwort! Sag ihm einfach die Wahrheit … deshalb bist du doch hier!
»Welches Glück, dass ich von Ihrer Schlaflosigkeit profitieren darf.«
Er erhob sich und rückte ihr den Stuhl zurecht. Sie atmete heftig. Seine Gegenwart lähmte sie, und der Duft seines Rasierwassers stieg ihr zu Kopf. Dagegen verblassten die gespenstischen Eindrücke der vergangenen Nacht.
Fatima brach den Bann, indem sie Paul sein Frühstück servierte, nach Charmaines Wünschen fragte und ihnen dann noch frischen Kaffee einschenkte.
»Ich bin froh um diesen ungestörten Augenblick«, sagte Paul. »Ich muss außerdem einiges mit Ihnen besprechen.«
»Mir geht es genauso …«
Als er lächelte, zögerte sie und wartete, dass er zuerst das Wort ergriff.
»Am Montag werde ich nach Espoir segeln«, sagte er.
»Für lange?« Eine kindische Frage, aber er schien sich trotzdem darüber zu freuen.
»Nein, nur für zwei Wochen – oder auch drei. Ich habe die Insel in letzter Zeit etwas vernachlässigt, aber es gibt Wichtiges zu tun, das sich nicht länger aufschieben lässt.«
»Zwei Wochen?« Sie war enttäuscht. Wie schnell sich die frohe Stimmung dieses Morgens doch verdüsterte.
»Die Zeit wird schneller vergehen, als Sie glauben. Warum sind Sie so bedrückt? Doch nicht wegen John? Er hat Sie hoffentlich nicht wieder belästigt, oder?«
»Nein, nein, ganz im Gegenteil. Er war die Woche über ausgesprochen höflich zu mir.«
Paul runzelte die Stirn. »Das ist mir auch aufgefallen. Aber was bedrückt Sie dann?«
Charmaine wollte schon etwas sagen, aber dann überlegte sie es sich anders. »Es ist nichts.«
»Sind Sie sicher?«
»Aber natürlich. Sorgen Sie sich nicht. Es wird uns wunderbar
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