Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
stockte der Atem. »Den überlasse ich Ihnen mit Freuden!«
»Wie großzügig von Ihnen!« Felicias Augen waren so hart wie Granit, und ihre Stimme war kalt wie Eis. »Ich registriere alle Veränderungen im Haus. Heute noch verfeindet – und am nächsten Tag dicke Freunde. Wie haben Sie das gemacht? Haben Sie hinter Pauls Rücken heimlich die Röcke gehoben?«
Angewidert packte Charmaine das Tablett und eilte über die Dienertreppe davon.
»So ist es richtig, Mademoiselle«, rief Felicia ihr nach. »Rennen Sie nur zurück zu den Kindern, und überlassen Sie die Männer mir. Doch wenn Sie weiter Ihre Spielchen treiben wollen, so halten Sie sich gefälligst an Paul und lassen Sie John in Ruhe!«
Kochend vor Wut erreichte Charmaine das Kinderzimmer, doch im nächsten Moment schob sie den Gedanken an Felicia beiseite und zwang sich zu einem Lächeln, als sie das Tablett vor Pierre und Rose auf den Tisch stellte. Dann setzte sie sich neben Jeannette, die in ein Buch vertieft war. »Das scheint ganz schön spannend zu sein.«
»Hm?« Abwesend hob die Kleine den Blick. »O ja, Made moiselle! Glauben Sie, dass ein Mensch zum Vampir werden kann?«
»Zu einem Vampir? Handelt das Buch von Vampiren?«
»Ja. Vampire sind schrecklich. Es sind lebendige Tote«, erklärte sie mit großen, bangen Augen. »Am Tag schlafen sie im Grab, aber wenn es dunkel wird, stehen sie auf und suchen nach Opfern …«
»Hör auf, Jeannette, solche Geschichten jagen deinem Bruder doch Angst ein! Warum liest du überhaupt solche Bücher?« Sie nahm Jeannette das Buch aus der Hand und blätterte darin. »Wo hast du das denn bloß her?«
»Yvette hat es vor ein paar Tagen in der Bibliothek gefunden«, erklärte Jeannette. »Sie will es lesen, sobald sie mit Frankenstein fertig ist.«
»Frankenstein?« Entgeistert sah Charmaine zu Yvette hinüber, die vor den französischen Türen auf dem Boden lag und las.
»Die Geschichte ist noch gruseliger als die über die Vampire«, sagte Yvette. »Hören Sie nur …« Und dann folgten einige abscheuliche Einzelheiten.
Charmaine hatte genug gehört. Sie ging zu Yvette und nahm ihr das Buch aus der Hand. »Mary Shelley … Wo hast du das Buch her?«
»Von Johnny. Mary Shelley schreibt, dass sich eine Leiche über sie beugt …«
»Eine Leiche?« Charmaine schnappte nach Luft. »Weshalb sollte jemand, und erst recht eine Frau, eine so furchtbare Geschichte zu Papier bringen?«
»Um eine Wette zu gewinnen.«
»Wie bitte?«
»Johnny hat gesagt, dass Mary Shelley und ihre Freunde gewettet haben, wer die gruseligste Geschichte schreiben kann.«
»Und hat sie gewonnen?«
»Ich glaube, ja. Sie würden sich doch auch gruseln, wenn Dr. Frankenstein Tote zum Leben erweckt, oder?«
»Er erweckt Tote zum Leben? Aber, Yvette! Das ist Gotteslästerung!«
»Er holt die Leichen aus dem Grab …«
»Es reicht, Yvette!«, schimpfte Charmaine und klappte das Buch zu.
Rose pflichtete ihr bei.
»Von jetzt an will ich kein Wort mehr über entweihte Gräber und zum Leben erweckte Tote hören«, erklärte Charmaine. »Und damit wir uns richtig verstehen: Dieses Buch hebe ich auf, bis du älter bist.«
»Aber das geht nicht, Mademoiselle! Ich muss es zu Ende lesen, sonst …«
»Sonst?« Charmaine bemerkte den Blick, den Yvette ihrer Schwester zuwarf. »Heraus mit der Sprache, oder du siehst das Buch nie wieder!«
»Das ist unfair!«, schimpfte das Mädchen. Und nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu: »Na gut. Joseph behauptet, dass ich feige bin und schon vor dem Ende heulen würde. Ich muss es also bis zum Ende lesen!«
»Warum lässt du dich ärgern? Joseph ist fünf Jahre älter als du und weiß genau, wie er dich reizen kann.«
»Das ist nicht wahr! Und wenn ich die Wette gewonnen habe, ist er der Feigling!«
»Welche Wette? Dabei ist hoffentlich kein Geld im Spiel, oder etwa doch?«
Yvette schüttelte den Kopf, aber Charmaine war nicht überzeugt. Trotzdem gab sie Yvette das Buch unter der Bedingung zurück, dass sie nach der Wette nicht mehr über diese makaberen Geschichten reden würde.
Dienstag, 29. August 1837
John steckte den Kopf ins Kinderzimmer. »Rose fühlt sich nicht wohl.«
»Ich weiß«, entgegnete Charmaine ruhig.
»Sie hat den Unterricht der Mädchen erwähnt. Wenn es Ihnen recht ist, könnte ich mich in der Zeit um Pierre kümmern.«
Charmaine war über diese Lösung zwar nicht glücklich, aber schließlich war sie einverstanden. Es dauerte keine dreißig Minuten, bis die
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