Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und schlich hinaus auf den Korridor.
Die Tür zu Pauls Ankleidezimmer war nur angelehnt, und aus dem Spalt sickerte sanfter Lichtschein in den Flur. Sie hob die Hand, um zu klopfen, aber dann zögerte sie.
»Haben Sie es sich anders überlegt?«
Sie fuhr herum und seufzte erleichtert, als sie John die letzten Stufen heraufkommen sah. »Haben Sie mich erschreckt!«
»Das glaube ich gern«, bemerkte er sarkastisch. »Ein guter Rat: Der Weg über die Veranda fällt weniger auf.«
»Die Veranda?«, wiederholte Charmaine verständnislos, aber dann dämmerte es ihr. »Oh, Sie missverstehen da etwas. Ich wollte Ihren Bruder lediglich um einen Gefallen bitten.«
»Um einen Gefallen?« Ein schiefes Grinsen spielte um seine Lippen. »Sollte er denn nicht eigentlich Sie bitten?«
»Sir, Sie missverstehen mich.«
John schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Sir?«
»Mademoiselle?«
Es gab keinen anderen Weg. Außerdem war er ohnehin der Beste, wenn es galt, seine verzweifelte Schwester zu beruhigen. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?«
»Die ganze Nacht.«
Verlegenheit überkam sie. »Ach, vergessen Sie es. Ich komme auch allein zurecht.«
John stutzte und holte sie an der Kinderzimmertür ein. »Wobei kann ich Ihnen helfen, Miss Ryan?«
Nachdem sie ihm die Lage erläutert hatte, betrat er das Zimmer und ging zu Jeannettes Bett.
»Miss Ryan hat mir gesagt, dass du dich fürchtest.«
»Die Balkontüren gehen immer von allein auf«, klagte Jeannette und sah zu ihrer Schwester hinüber, die zwar wach war, aber nichts dazu sagte.
Johns Blick richtete sich auf Yvette. »Und du weißt nicht, wer sie aufgemacht hat?«
»Nein. Beim letzten Mal habe ich jemanden gesehen. Aber heute Nacht habe ich nur etwas gehört.«
»Vielleicht hast du dir das ja alles eingebildet – nach den vielen Geistergeschichten, die du gelesen hast.«
»Ganz bestimmt nicht. Als es das letzte Mal passiert ist, hatte ich die Geschichten noch gar nicht gelesen. Außerdem öffnen sich Türen nicht von allein.«
»Manchmal schon«, sagte John.
»Wirklich?«, fragten beide Mädchen wie aus einem Mund.
»Aber natürlich.« Er erklärte ihnen, wie ein Windstoß eine Tür in Bewegung setzen konnte, und kurz darauf lächelte Jeannette und gestand, dass sie sich nun nicht mehr fürchtete.
»Aber wie konnte sich der Riegel von allein öffnen?«, fragte Yvette.
»Diese Türen schließen sehr schlecht. Da kann es schon vorkommen, dass ein Riegel nicht ganz einschnappt. So war es vermutlich auch heute Nacht. Würden Sie dem zustimmen, Miss Ryan?«
»Absolut.«
Yvette brummte nur und streckte sich aus.
John ging zu den französischen Türen hinüber und öffnete sie. »Morgen wird es wieder sehr heiß. Genießt lieber die kühle Brise, solange sie noch weht.«
»Nein!«, rief Jeannette. Als sie merkte, dass Pierre unruhig wurde, sprach sie leiser. »Bitte, mach die Türen zu, Johnny, und zwar richtig. Sonst fürchte ich mich.«
»Ich dachte, das wäre vorbei.«
»Ich habe Angst, dass jemand hereinschleicht … so wie beim letzten Mal.«
»Der Einzige, der noch so spät in der Nacht ums Haus schleicht, ist George, wenn er in Cookies Vorratskammer nach Leckereien sucht«, bemerkte John.
Die Mädchen kicherten fröhlich, wie John erwartet hatte. Doch leider weckten sie damit ihren kleinen Bruder.
Die Sache artet allmählich zu einer mitternächtlichen Party aus, dachte Charmaine und seufzte.
John bemerkte ihr Missfallen und wandte sich dem Kleinen zu. »Komm, schlaf wieder ein.« Er streichelte ihm sanft übers Haar. »Ihr müsst keine Angst haben, Kinder. Es ist alles in Ordnung. Miss Ryan schläft gleich nebenan, und ich bin auch nicht weit fort. Ihr müsst nur rufen.«
»Ich danke Ihnen«, flüsterte Charmaine, als sie ihn an die Tür begleitete. Seine Nähe verwirrte sie.
»Sie können mich jederzeit rufen.«
»Johnny?«, rief Jeannette. »Glaubst du, dass es Monster gibt?«
Er sah zu ihr zurück. »Aber natürlich.«
»Hast du schon eines gesehen?«
»Heute Morgen beim Frühstück, zum Beispiel.«
»Wirklich?«
»Hast du es denn nicht gesehen?«
»Nein.«
»Ich verstehe nicht, wie du es übersehen konntest«, fuhr er mit todernster Miene fort. »Es hat doch am Ende der Tafel gesessen und seine riesige Nase in die Luft gereckt.«
Die Mädchen brachen in Gelächter aus, und sogar Charmaine kicherte leise.
»Wisst ihr eigentlich«, begann John und ging noch einmal zu den Betten der
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