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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Applaus will nicht enden. Laute Bravorufe, aber diesmal an der richtigen Stelle. Ich schaue hinüber zu Marianne. Sie klatscht mit hoch erhobenen Händen. Sie ruft mir »Bravo« zu. Aber sie tut es lautlos und mit einem Lächeln, erinnert sich, was ich über Cathrine sagte. Da fühle ich mich endlich sicher. Da vergesse ich, zu Selma Lynge zu schauen. Ich brauche es nicht. Chopin schaffe ich ohne ihre Hilfe. Die f-Moll-Phantasie ist auch ein Crescendo, unterbrochenvon einem Traum, ehe ein erneutes Crescendo die Grenzen überschreitet und den Weg zu Versöhnung und Resignation findet.
    Ich bin in der Musik. Lebe darin. Beherrsche sie. Ich spüre Marianne in meiner Nähe. Spüre alles, was sie in mir entzündet hat. Und ich muß ihr nichts beweisen. Ich muß nur mit heiler Haut durch dieses Konzert kommen, dann können wir neue Pläne schmieden, dann können wir neue Fragen stellen, dann werde ich nur für sie und für unser Kind da sein.
    Erneuter Applaus. Mehr Bravo-Rufe. Ich verbeuge mich vor der Pause. In der Freude verspüre ich einen Stich. Rebecca und Margrethe Irene müßten hier sein.
    Marianne ist hier.

    In der Pause kommen Selma Lynge und W. Gude zu mir hinunter. Sie sind übermütig wie zwei Kinder. Selma Lynge umarmt mich begeistert.
    »Mein Junge«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Du weißt gar nicht, wie toll du spielst, wie dankbar ich bin.«
    W. Gude vollführt eine weite Armbewegung und sagt: »Das ist historisch, junger Mann! Du bist einfach eine Klasse für sich!«
    »Geht jetzt«, sage ich und winke sie aus dem Foyer. Ich brauche sie nicht mehr.

    Dann gehe ich hinaus zum zweiten Teil, bin klar und bewußt, vorbereitet auf Beethoven, dankbar für die Ruhe, die ich spüre, die kommt, weil ich sicher bin, weil ich, trotz allem, genug geübt habe, dieses Werk in- und auswendig kenne, die linke Hand ohne die rechte spielen kann und umgekehrt, weil ich außerdem Dutzende von kleinen Phrasen kenne.
    Und jetzt, so viele Jahre danach, kann ich mich erinnern,wie langsam ich spiele und wie schnell es geht. Ich erinnere mich, daß sich die Bruchstücke aneinanderfügen wie Perlen auf einer Kette. Ich erinnere mich, daß die Themen singen und daß die Fugenpartien Gewicht bekommen. Ich erinnere mich nicht an den Applaus hinterher. Ich erinnere mich nur, daß ich mich in Harmonie mit mir selbst fühle, daß ich eine neue Selbstsicherheit errungen habe, daß ich zu Marianne schauen kann, die sie mir gegeben hat, daß ich mich auf den Schluß freue, die ernste Bach-Sequenz mit dem Präludium und der Fuge in cis-Moll. Und ich freue mich, daß alles vorbei ist, daß ich auf Nullstellung gehen kann, daß ich wie Rebecca den Gedanken wagen kann, mich zu fragen: »Ist es das wert?« Aber vorläufig spüre ich die Freude bei jedem Ton, den ich anschlage. Noch wächst Bach unter meinen Fingern. Noch habe ich das Gefühl, daß das Leben eine Architektur hat, daß es einen Sinn gibt, eine Logik, eine Konsequenz.
    Und wie ich so am Rande des Abgrunds stehe, ohne es selbst zu begreifen, spüre ich, daß die Beine tragen, daß die Finger Stärke haben, daß ich lächeln kann, als mich der Saal am Ende auf einer Woge des Applauses und der lautstarken Anerkennung trägt. Aber weswegen applaudieren sie? denke ich. Weil ich etwas, rein musikalisch, klar ausgedrückt habe? Oder wegen des Weges dorthin, der sportlichen Leistung, all der schweren Tage, die ich hatte?
    Ich spiele Byrd. »Erste Pavan« und »Galliard«. Das genügt nicht. Sie wollen mehr. Da mache ich etwas Dummes. Da werde ich übermütig und spiele »Elven«. Und viele Jahre später, sitzend an meinem Schreibtisch, muß ich denken: Hatte das eine Bedeutung? Hat das zu einem Gedanken, zu einer plötzlichen Eingebung geführt? So wie es eine Eingebung von Marianne Skoog gewesen sein muß, die Zimmerannonce an den Lichtmast zu heften, so wie es eine Eingebung von mir war, direkt zum Elvefaret zu gehen und anihrer Tür zu klingeln. So viele Zufälligkeiten in einem Leben, verbunden mit unheimlichen Folgen. Wenn Bror Skoog an jenem Tag nicht Marianne belauscht hätte … Wenn Mutter nicht zwei Flaschen Wein getrunken hätte … Wenn ich nicht zur Klinik gefahren wäre und um ihre Hand angehalten hätte …

    Es ist zu spät, jetzt daran zu denken. Es war zu spät, damals daran zu denken. Als ich »Elven« spielte. Als das Publikum stutzte. Als ich etwas Unerwartetes machte, das es nicht mochte. Das ich bewußt und willentlich machte, ohne daß es sie aufhalten

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