Der Fluß
der schäumenden Gischt kaum sichtbar ist. Da kommt eine kräftige Bö. Rebeccas roter Sonnenhut fliegt davon.
In dem Moment bricht der Mast. Die Yacht kentert. Jemand schreit. Das Segel wird von den Wellen verschlungen. Die Mannschaft fällt ins Wasser. Der glatte Rumpf wälzt sich nach oben, obszön in seiner Nacktheit, hilflos wie ein sterbender Fisch.
Rebecca springt vom Liegestuhl auf. »Mein Gott, Aksel. Was sollen wir tun?«
»Das fragst du mich ?«
»Wir müssen sie retten.«
»Wie sollen wir sie retten?«
»Sie haben kein Schlauchboot. Siehst du irgendwo ein Schlauchboot?«
»Nein«, sage ich und stehe dabei auf, spüre, wie meine Knie zittern, laufe aber mit Rebecca die Treppe hinunter zum Anlegesteg in der kleinen Bucht unterhalb des Ferienhauses.
»Wir sind die einzigen Zeugen, Aksel. Außer uns hat es niemand gesehen. Jetzt sind wir gefragt, verstehst du?«
Rebecca, die nie Angst gezeigt hat, nicht einmal, als sie bei ihrem Debüt in der Aula der Länge nach auf das Podium fiel. Jetzt hat sie Angst, sind ihre Augen schwarz. Und trotzdem ist sie mir weit voraus. »Schneller, Aksel!« Sie hat die Wahl zwischen der 32 Fuß langen Motoryacht und der 17 Fuß langen Askeladden-Jolle. »Ich nehme die Motoryacht«, sagt sie. »Aber da mußt du mir helfen.« Sie springt an Bord, ruft mir zu, die Leinen zu lösen, und startet den Motor. Der ängstliche Pianist in mir will seine Finger schonen, aber Rebecca fährt bereits los. Ich springe im letzten Moment ins Boot.
»Beinahe Sturm, wenn doch Mama und Papa hier wären«, sagt sie verzweifelt. Ich lege ihr tröstend den Arm um die Schulter, fühle ihre Gänsehaut. Zum erstenmal berühre ich sie so, daß ich ihre Haut spüre. Sie ist die Stärkere von uns beiden. Sie ist immer der Chef gewesen. Jetzt auch. Obwohl sie zerbrechlich und verloren wirkt, wie sie da am Ruder dieses viel zu großen Bootes steht.
»So etwas habe ich noch nicht erlebt, Aksel.«
»Ich auch nicht.«
»Aber deine Mutter ist doch im Wasserfall ertrunken.«
»Das hier ist kein Wasserfall, Rebecca. Außerdem haben sie Schwimmwesten.«
Sie antwortet nicht, hat genug damit zu tun, das große Boot in dem Wellengang zu halten. Mir fallen idiotische Dinge ein. Die Motoryacht heißt »Michelangeli«. Nicht nach dem Maler, sondern nach dem Pianisten. Arturo Benedetti Michelangeli. Rebecca sollte Pianistin werden. Jetzt wird sie Ärztin. Vielleicht heißt das Boot im nächsten Sommer »Albert Schweitzer«.
Wir kommen hinaus aus der Bucht und werden vom ablandigen Wind abgetrieben. Die Wellen sind klein und hart. Nicht sie haben die Segelyacht zum Kentern gebracht, daswar der Wind. Jetzt liegt sie direkt vor uns. Fünf Mann Besatzung, denke ich. Wie Holzstücke schwimmen sie im Wasser, und ich soll sie rausziehen, während Rebecca das Boot neben die kieloben treibende Yacht manövriert. So stellt sie sich das vor. Die Segler sind alle auf einer Seite. Die Sonne ist wieder herausgekommen. Das Meer glänzt. Die orangefarbenen Schwimmwesten schaukeln wie kleine Bojen auf dem Wasser. Aber es sind lebendige Menschen.
»Du mußt nach hinten gehen, Aksel!« ruft Rebecca. Sie dürfen nicht in die Schiffsschraube geraten, wenn ich plötzlich manövrieren muß!«
Da fällt mir ein, daß das Schiff keine Badeleiter hat. Sie ging zu Beginn des Sommers kaputt. Rebecca stellt sich also vor, daß ich die Schiffbrüchigen aus eigener Kraft an Bord ziehe.
Ich erkenne den Mann, der am Ruder stand. Das grüne T-Shirt. Er kämpft gegen die Wellen an, gibt aber seine Rolle als der starke und souveräne Kapitän nicht auf, als er seiner Besatzung befiehlt: »Ruhe bewahren! Wartet auf meine Anweisungen! Achtet auf die Propeller!«
Rebecca hat die Motoryacht voll unter Kontrolle. Immer noch ein Teenager. Im Profil sieht sie schön und stolz aus. Ich warte auf ihre Befehle. Rebecca fährt rückwärts.
»Jetzt mach dich fertig, Aksel.«
Ich habe keine Ahnung, was von mir erwartet wird. Gesichter im Wasser, nasse, angstvolle, erwachsene Gesichter. Vierzigjährige auf einem Segeltörn. Sie hätten es besser wissen können, denke ich und bin beinahe wütend auf sie, weil sie sich auf diese Weise in mein Leben einmischen. Als mich Rebecca in das Ferienhaus der Frosts einlud, war ich ziemlich am Ende. Ich tat ihr leid. Ich hatte Anja verloren. Und meine Familie hatte sich mehr oder minder aufgelöst. Mutter war vor längerer Zeit in einem Wasserfall ertrunken. Vater hatte eine neue Frau gefunden und unser Haus
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