Der Fluß
konnte, sie hindern konnte, sich von ihrem Platz zu erheben, sofort, als die letzten Takte kaum verklungen waren, sofort, als der höfliche, etwas verunsicherte Applaus losbrach.
Sie drehte sich jedenfalls um und winkte mir zu, so wie Mutter winkte, bevor sie im Wasserfall ertrank. Und ich, völlig absorbiert von meinem Freudenrausch dort oben auf dem Podium, sah nicht, daß es ein Abschied war. Ich glaubte, es sei ein Versprechen, daß sie den Arm in die Höhe reckte, um mir zu sagen, daß sie gleich bei mir sein würde, daß sie durch den Haupteingang hinaus- und um das große Gebäude herumlaufen würde, um im Künstlerfoyer auf mich zu warten, bis ich nach einer weiteren Zugabe, was es war, weiß ich heute nicht mehr, vom Podium kommen würde.
Aber ihr Bild sehe ich deutlich vor mir: So froh, so jugendlich und mit einem Kind im Bauch. Sie war so erleichtert, denke ich jetzt, weil Schluß war, weil alles Leiden ein Ende haben würde. Sie war so erleichtert, daß das Leben keine Schufterei mehr sein würde. Sie war so erleichtert, weil sie sah, daß es mir gutgehen würde. Und vielleicht, denke ich jetzt, während ich mit gekrümmtem Rücken schreibe und mich so erschöpft fühle, war da bis zum Schluß eine Freude. Eine Erwartung trotz allem. Vielleicht dachte sie in den letzten Sekunden ihres Lebens, als sie wieder auf demSchemel stand in dem Kellergemach, an das Zitat von Nietzsche, das ich ihr mit meinen Worten vorgesagt habe, als wir nur einige Wochen vorher im Hotel Sacher in Wien frisch verheiratet im Bett lagen:
»Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit. Will tiefe, tiefe Ewigkeit!«
Aksel Vinding hat sich gänzlich dem Klavierspiel verschrieben. Angetrieben von einer strengen Lehrerin arbeitet er auf sein erstes öffentliches Konzert hin. Bei einem Ausflug rettet er Marianne Skoog, die Mutter seiner verstorbenen Freundin Anja, vor dem Ertrinken und verliebt sich in sie. Marianne macht ihn mit einer Welt vertraut, die seinem Blick bisher verborgen geblieben ist. Politik, sexuelle Freiheit und Joni Mitchell finden Einzug in sein Leben. Und plötzlich scheinen sein Wunsch nach Normalität und seine Musikbesessenheit miteinander vereinbar. Aksels Auftritt wird ein großer Erfolg. Doch da erreicht ihn eine erschütternde Nachricht.
Ketil Bjørnstad, geboren 1952, lebt als Schriftsteller, Pianist und Komponist in Oslo. Er studierte in Oslo, London und Paris klassisches Klavier. Im Suhrkamp Verlag sind von ihm zuletzt erschienen: Villa Europa (st 3730), Oda (st 4077) und Vindings Spiel (st 3891).
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