Der Fluß
verkauft,und Cathrine hatte verzweifelt das Weite gesucht. »Das ist nun wirklich genug«, hatte Rebecca gemeint. Genug, um mir ein paar friedliche Tage am Kilsundfjord zu schenken, in ihrer unwirklichen Luxuswelt.
Jetzt stelle ich fest, daß einer fehlt. »Wo ist der fünfte?« rufe ich. Sie fangen an zu rufen, fuchteln mit den Armen. »Erik? Wo ist Erik geblieben?« Sie versuchen, über die Wellenkämme zu spähen.
»Vielleicht ist er unterm Boot gefangen«, sagt der Steuermann. »Ich tauche nach ihm.«
»Nein!« schreit ein Mann. »Doch!« schreit eine Frau. Im Wasser liegen zwei Männer und zwei Frauen und gestikulieren, direkt unter dem Heck der »Michelangeli«. Der Steuermann verschwindet in den Wellen. Die andern schreien durcheinander. Ich strecke die Arme aus, bereite mich auf das Hochziehen vor, erwachsene Körper, die eineinhalb Meter nach oben zur Reling gebracht werden müssen. Aber sie wollen nicht nach oben. Noch nicht. Sie sind Sportler, Segelsportler, gesund und fit. »Erik!« rufen sie, schreien sie, aber die Laute verschwinden im Sturm. Rebecca dreht sich zu mir, wagt ihren Platz am Ruder nicht zu verlassen.
»Was ist los, Aksel?«
»Einer fehlt!«
»Das ist nicht wahr!«
Sie fängt zu weinen an. Mir verkrampft sich der Magen. Ich muß in jedem Fall gleich die vier aus dem Wasser ziehen. Der Steuermann taucht wieder auf, schnappt nach Luft. Das Gesicht ist verzerrt vor Verzweiflung.
Eine der Frauen beginnt hysterisch zu kreischen.
»Zieh Marianne zuerst raus!« kommandiert der Steuermann und fixiert mich dabei. Jetzt erkenne ich, welche Angst er hat.
Ich greife nach ihren Armen. Sie wehrt sich. Will nicht nach oben.
»Du mußt hinauf, Marianne!« ruft der Steuermann. »Wir suchen weiter nach Erik!«
»Vorsicht mit dem Propeller!« ruft Rebecca. »Ich muß rückwärts fahren, damit ich nicht in der Takelage hängenbleibe.«
Sie setzt zurück, während ich diese Marianne aus dem Wasser ziehe. Wie schwer sie ist, denke ich. Ich hätte nicht gedacht, daß ein Mensch so schwer sein kann. Und obwohl ich die heulende und hysterische Frau bereits in diesem Augenblick wiedererkenne, wage ich erst viel später, die Wahrheit zu akzeptieren: daß es Marianne Skoog ist, die ich da ins Boot hole. Daß das mehr als ein Zufall sein sollte. Daß ich nie mehr von ihr loskommen sollte, so wie eine Katastrophe auf die andere folgt, so wie Menschen miteinander verbunden werden, wieder und wieder, um sich gemeinsam zu ergründen.
Wir sitzen auf der Terrasse des Ferienhauses. Draußen im Wasser liegt das gekenterte Boot. Manchmal, wenn sich das Heck aus den Wellen hebt, sehen wir seinen Namen. »Furchtlos« heißt es. Selbst der Steuermann mußte sich übergeben. Ich zog ihn als letzten heraus. Jetzt fliegen zwei Hubschrauber niedrig über dem Meer, und das Seenotrettungsschiff »Odd Fellow« aus Arendal ist eingetroffen. Einige kleinere Schiffe beteiligen sich an der Suche. Aber der Sturm hat kaum nachgelassen. Die vier Schiffbrüchigen sitzen auf den Steinbänken um den Grill und versuchen, einander zu trösten. Aus ihren Nasen rinnt immer noch Rotz und Salzwasser.
»Vergeßt nicht, Erik hält einiges aus!« sagt der Steuermann.
»Vielleicht hat ihn der Großbaum erwischt, und er war bewußtlos, als er ins Wasser fiel«, sagt der andere Mann, ein eher schüchterner Typ. Ich wage Marianne nicht anzusehen.Sie sorgt sich am meisten um den Vermißten. Mich scheint sie allerdings nicht wiedererkannt zu haben. Vielleicht hat sie einen Schock, denke ich. Alle verfolgen wir die Suche draußen auf dem Meer. Rebecca hat heißen Johannisbeerwein gebracht, den sie kaum trinken können, so zittern ihre Hände.
Da sehen wir, daß einer der Hubschrauber tiefer geht. Gekentert sind sie vor eineinhalb Stunden.
»Sie haben ihn gefunden!« ruft der Steuermann.
Im Gegenlicht wird die Silhouette des Mannes, der sich hinunterläßt, deutlich sichtbar. Rebecca setzt sich neben mich und umklammert mit beiden Händen meinen Arm.
»Er muß leben«, murmelt sie mehr zu sich selbst.
Marianne Skoog steckt den Kopf zwischen die Knie. Sie weint nicht.
Der Mann aus dem Rettungshubschrauber greift nach etwas im Wasser. Es ist ein Mensch, den er an sich festbindet. Die Silhouette eines Mannes. Zwei Männer werden langsam hinauf zum Hubschrauber gezogen. Und obwohl beide wie leblos in der Luft hängen, wissen wir alle, der eine lebt, der andere ist tot.
Nachbeben
Erst als der Krankenwagen aus Arendal vorfährt, um die
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