Der Fluß
ich systematisch, aber ohne besondere Freude die Russen übe und mich außerdem durch die vierundzwanzig Etüden von Chopin quäle, wieder und wieder, weil genau diese intrikatenKlavierstücke meine Technik verbessern sollen, wie Selma Lynge gesagt hat. Die Tage sind nicht mehr so spannend wie eine Wundertüte. Die Angst vor der Zukunft und vor Selma Lynge überfällt mich. Überall ist soviel Licht, aber ich sehe nur Schatten. Ich habe zuwenig geübt. Selma Lynge wird das sofort merken. In mir ist eine Verzweiflung, die mich schon frühmorgens weckt, zusammen mit dem Dröhnen der ersten Straßenbahn. Die Musik ist kein Trost mehr. Rebecca war ein Trost. Aber Trost ist wie eine Droge. Trotzdem sehne ich mich nicht nach ihr. Die Gefühle sind heftig, aber unverbindlich. Ständige Taktwechsel. Wenn nichts anderes mehr wirkt, wenn die Sorge zur Depression zu werden droht, suche ich Zuflucht bei Brahms. Die Kammermusik. Violine, Bratsche und Cello. Ich spiele diese Trios mit Melina und Tibor, zwei jungen, verliebten Ungarn, die noch nicht wissen, ob sie ganz auf die Musik setzen sollen. Sie haben die Wohnung eines Psychiaters in Slemdal gemietet. Dreimal die Woche fahre ich mit der Straßenbahn dorthin. Ich möchte mit Melina schlafen, so wie ich es mit Rebecca getan habe, egal wie Rebecca das nennt. Unverbindlich. So, daß ich sie unmittelbar danach vergessen kann. Was stimmt nicht mit mir? Intensives Verliebtsein, das zwei Tage dauert. Dann eine andere. Aber jedesmal ist es Anja Skoog, und jedesmal sind es Selma Lynges Erwartungen, und jedesmal ist es Brahms. Eine Welt, in der das Klavier trotz einer gewaltigen Partitur eine untergeordnete Rolle spielt, wenn es in den Sonaten auftaucht, in den Trios, in den Quartetten und in den anstrengenden f-Moll-Quintetten. So wie ich eine untergeordnete Rolle in Anjas Leben spielte und sie nicht retten konnte, wenn ich es gewollt hätte.
Aber mit den beiden spiele ich Trios, mit ersten Sätzen so langgezogen wie ein Traum, in dieser Zeit meines Lebens, in der ich unsicher und introvertiert bin und in der Melina und Tibor meine Ferienbetreuer sind. Ich kann mit ihnenmomentan nichts anderes machen als Trios spielen. O Melina, du hast deinen Tibor gefunden! Du wirst nie eine Cellistin werden! Du wirst dich zur Ärztin ausbilden lassen, den Beruf nicht ausüben und viele Kinder bekommen! Ich habe mich bereits entschieden, sowohl für die Musik wie für die Scham. Das ist keine Scham, die einen konkreten Anlaß hat, jedenfalls nichts, was an das erinnert, was zwischen mir und Rebecca geschah. Die Scham hängt mit Anjas Tod zusammen, und darüber kann ich mit Melina und Tibor nicht reden. Melina spielt in trägerlosen Sommerkleidern. Ist schüchtern und zugleich willig, schickt mir ihre schwarzen Blicke, wenn sich die Musik dem Höhepunkt nähert, flirtet offensichtlich, ist aber trotzdem ihrem Tibor hoffnungslos treu. Worüber kann ich mit ihnen reden? Ich kenne Ungarn nicht, und sie sprechen kaum Norwegisch. Wir trinken nach dem Üben Egri Bikaver, aber Melina bekommt jedesmal Kopfschmerzen und muß sich schon vor neun Uhr hinlegen, küßt mich mit schwellenden Lippen auf die Wange, bittet mich, sie zu entschuldigen. Wofür entschuldigen? Ich habe keine Lust, allein mit Tibor über seinen Vater und den Aufstand von 1956 zu reden. Das ist das einzige, über das er reden kann, obwohl er damals erst fünf Jahre alt war. Er erinnert sich nicht einmal an seinen Vater, muß aber ständig von ihm reden. Ich erinnere mich immerhin an meine Mutter und kann sie nicht vergessen. An einem Sonntagnachmittag Anfang September 1970 suche ich wieder die Tatorte auf. Das Tal der Kindheit. Das verlorene Paradies. Ich nehme die Røa-Straßenbahn, wie wir immer gesagt haben, obwohl sie nach Lijordet fährt. Ein sinnloses Zurücksehnen. Das frühe Herbstlicht ist scharf. Die Schatten sind ebenfalls scharf. Nichts mehr wirkt schmerzstillend. Keine glänzenden und goldenen Punkte zum Festhalten. Die große Mattigkeit des Sommers hat mir jede Kraft genommen, jede Initiative. Was im Sommer geschieht, ist nicht wirklich. Mutters Tod warnicht wirklich. Anjas Tod auch nicht. Nur Rebeccas Hand war wirklich. Die Segelyacht mit dem Rumpf nach oben. Mariannes verzweifelter Blick.
Die Annonce
Der Herbst ist ein Freund. Kühle Luft. Klare Gedanken. Die Sorgen und das innere Chaos werden von neuen Vorhaben verdrängt. Menschen mit roten Wangen und wachem Blick. Sternenschein. Der Herbst ist verbindlich. Ich habe nicht
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