Der Fluß
versperrten Raum geworden, zu dem ich den Schlüssel verloren habe. Aber es ist ja noch alles da! denke ich. Die Bäume, die Häuser, der Asphalt, die Türen, der Flieder. Meter um Meter erobere ich verlorenes Leben zurück. Da sind Anja und ich nach dem Ausflug auf den Brunkollen stehengeblieben. Da stand ich und blickte zur letzten Kurve vor ihrem Haus. Sie wollte nicht, daß ich sie ganz bis dorthin begleite. Aber jetzt sehe ich das Haus wieder. Das Haus der Skoogs. Dunkel und düster steht es hinter den hohen Bäumen. Ich sehe den Plattenweg zur Treppe und die brauneEingangstür mit dem kleinen Bleiglasfenster. Auf dem alten Messingschild steht immer noch Skoog. Ich bin jetzt da und an dem Lichtmast rechts vom Gartentor entdecke ich den gleichen, etwas hilflos maschinengeschriebenen Zettel mit der Annonce. »Zimmer zu vermieten. Ideal für musikbegeisterten Studenten.« Da stand eine Telefonnummer. Aber die brauche ich nicht. Ich bin persönlich gekommen. Und weiß, daß ich vielleicht eine Wahl fürs Leben treffe. Dieses Haus ist ein Tatort. Hier hat sich im Keller Bror Skoog erschossen. Hier ist Anja gestorben, Tag für Tag. Nur die Mutter ist noch da, Marianne Skoog. Die Witwe. Warum vermietet sie? Arm ist sie nicht, stammt aus reichen Verhältnissen. Und ist erst fünfunddreißig Jahre alt. Hat bei einem Segelunfall einen Freund verloren. Kann immer noch Kinder bekommen.
Ich öffne das Gartentor und gehe hinein, eigentlich ist es noch zu früh am Nachmittag und sie wird nicht zu Hause sein, wird noch in ihrer Gynäkologenpraxis in der Pilestredet mit Dingen beschäftigt sein, die ich mir lieber nicht vorstellen möchte. Ich habe eine Wahl getroffen und rechne mit einer Ablehnung. Nervös stehe ich vor ihrem Haus und weiß, daß das eine Totgeburt wird. Oder vielleicht eine überflüssige, nutzlose Demütigung.
Dann drücke ich auf den Klingelknopf.
Klingeltöne
Ich wußte nicht, daß die Erinnerung des Gehörs so stark ist. Ich fühle mich zurückversetzt zu jenem Dienstag, als gelbes Laub von den Bäumen fiel und ich zum erstenmal in diesem Haus Elgar hören sollte. Anja erwartete mich. Das war ein Gefühl, als würde man ein Kloster betreten. Sie wollte mir Jacqueline du Pré vorspielen. Was sich sonst noch ereignete, habe ich mir stibitzt, wie einkleiner Taschendieb. Denn sie war ständig irgendwo anders.
Die Klingeltöne. Danach Schritte. Marianne Skoog öffnet. Dann ist sie sicher den ganzen Tag zu Hause gewesen. Ist vielleicht immer noch krank geschrieben. Aber was hat sie gemacht. Als sie die Tür öffnet, sehe ich eine Frau im Baumwollkleid, fast ungeschminkt und nicht auf Besuch eingestellt. Bevor sie mich erkennt, ist die Körpersprache ablehnend. Dann merkt sie, wer ich bin.
» Du! « sagt sie vorwurfsvoll.
Ich deute auf den Lichtmast.
»Die Annonce«, sage ich.
Sie mustert mich mißtrauisch. Die Haut ist blaß und trocken. Vielleicht ist sie noch krank. Wir sind siebzehn Jahre auseinander.
»An dich habe ich nicht gedacht«, sagt sie und schüttelt fast verärgert den Kopf.
»Obwohl ich direkt um die Ecke gewohnt habe. Obwohl ich Musikstudent bin. Obwohl Anja und ich …«
»Ebendeshalb«, sagt sie kurz, macht aber die Tür ganz auf und bittet mich herein. Ich sehe, daß sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlagen. Daß sie intensiv überlegt. Bin ich der Richtige? Bin ich der Falsche? Noch im Flur zündet sie sich eine Zigarette an. Eine selbstgedrehte. Ich sehe, daß ihre Finger gelb sind. Das habe ich bisher nicht bemerkt. Ihre Erschöpfung. Ihr elendes Aussehen. Eine Gynäkologin mit Tabakfingern. Ich stutze, will es nicht wahrhaben. Sie spürt meinen Blick.
»Das mit dem Rauchen konnte ich nicht mehr steuern«, sagt sie entschuldigend. »Ich habe es so viele Jahre in Schach gehalten. Filterzigaretten. Ascot. Damenzigaretten. Seit diesem Sommer sind es Selbstgedrehte. Willst du eine?«
»Nein danke. Noch nicht.«
»Du bist jung und fehlerlos.«
»Sag das nicht.«
Wir gehen ins Wohnzimmer. Alles noch, wie ich es in Erinnerung habe. Die großen, abstrakten Bilder an den Wänden. Jens Johannesen und Gunnar S. Gundersen. Zu beiden Seiten des breiten Panoramafensters, das zum Tal und zum Fluß zeigt, stehen immer noch die AR-Lautsprecher, wie zwei Tempel. Die exklusiven McIntosh-Verstärker und der große, flache Garrard-Plattenspieler füllen fast die ganze Fensternische. In richtiger Entfernung für den optimalen Hörgenuß stehen zwei Barcelona-Stühle. Zur Sitzgruppe gehören
Weitere Kostenlose Bücher