Der Fotograf
seiner verdammten Bilder.
Doch dann erkannte sie: Das hier war ein Schnappschuss. Da fehlte die sorgfältige Komposition, das intellektuelle Kalkül, das Douglas Jeffers’ Arbeit auszeichnete. Das hier war ein Bild, das hastig, unter Zwang entstanden war. Unter Feuer.
Sie hielt es hoch.
»Du bist nicht Susan«, sagte sie zu dem Bild.
»Aber wer bist du dann?«, fragte sie.
Sie sah noch einmal hin und erkannte einen großen, dunklen Fleck auf der Brust der jungen Frau. Blut, dachte sie.
Sie überprüfte das Foto mit geübtem Blick auf Anzeichen von Polizeipräsenz, auf eine amtliche Untersuchung.
Nichts.
Und dann schlich sich ungefragt ein Gedanke ein, den sie nicht zu Ende zu führen wagte. Sie ließ das Bild auf den Tisch fallen und sah entgeistert auf. Sie war von Dutzenden von Fotos umgeben, Jeffers’ Heimgalerie. Sie sprang auf und riss ein großes Bild von zwei fernöstlichen Bauern mit ihren Wasserbüffeln vor der Abenddämmerung herunter. Mit aller Kraft warf sie das gerahmte Bild zu Boden.
Sie nahm das Foto vorsichtig aus dem Scherbenhaufen. Sie spürte die doppelte Stärke des Papiers. Sie versuchte, das obere Foto herunterzuschälen, doch diesmal schien es fest verklebt zu sein. Sie verbog es, bearbeitete es mit den Fingernund zog am Ende ein kleines Schablonenmesser aus dem Schreibtisch, mit dessen Hilfe sie einen Teil des oberen Bildes herunterschälen konnte.
Darunter kam ein weiteres Schwarzweißbild zum Vorschein. Zuerst sah sie ein nacktes Bein. Dann einen nackten Arm. Er war dunkel verschmiert. Sie hatte an zu vielen Tatorten zu viel Blut gesehen, um nicht zu wissen, was es war.
Sie hielt inne und sah in Panik auf die Wände.
»Susan«, rief sie wieder, und aus ihrer Stimme klang reine Qual. »Susan, o mein Gott, Susan. Du bist hier irgendwo.«
Wieder glitt ihr Blick über die Fotogalerie. Plötzlich kam sie sich dumm vor, geradezu peinlich dumm.
»O mein Gott, Susan, du bist hier nicht allein!«
Es war so offensichtlich, dass es sie nur umso mehr ent setzte. »O Gott, ihr seid alle hier«, sagte sie zu sämtlichen Augen auf sämtlichen Bildern, die ihr entgegenstarrten. »Ihr alle.«
Ihr wurde übel. Sie stellte sich vor, wie Douglas Jeffers entspannt in seinem Wohnzimmer saß und zu dem Foto hinaufblickte, das sie in Händen hielt, das mit den Männern und den Wasserbüffeln. Nur dass er nicht dieses Bild, sondern das darunter sehen würde.
Sie sackte wieder auf den Boden und konnte die Gesichter, die von der Wand auf sie herunterstarrten, nicht mehr ertragen. Was sie empfand, trieb die Verzweiflung noch einen Schritt weiter in eine tiefe Qual.
Sie dachte: Ich bin ein vernünftiger Mensch. Ich bediene mich der Logik, der Präzision, der Wissenschaft. Ich führe ein geordnetes, routiniertes Leben. Ich lasse mich von Fakten zu logischen Schlussfolgerungen leiten. Ich verrichte meine Arbeit effizient und mit Hingabe an die Sache. Für alles gibt es eine Erklärung.
Sie schüttelte den Kopf.
Und ich bin eine lausige Lügnerin. Besonders, wenn ich mir selbst etwas vormache.
In diesem Moment sprach sie laut aus, was sie dachte, und hoffte, dass der Klang ihrer Stimme den plötzlichen Drang, schnell wegzulaufen, verbannen konnte.
»O mein Gott, ihr seid alle hier. Ich weiß nicht, wer ihr seid oder wie viele ihr seid, aber ich weiß, ihr seid hier alle zusammen. Alle. Alle. O mein Gott. Ihr alle. Mein Gott, mein Gott, mein Gott. Ihr seid alle hier. Oh, oh, o nein.«
Und dann ein Gedanke, der noch schlimmer war:
Jetzt hängt alles an mir.
10. KAPITEL
Viele Attraktionen am Wegesrand
15.
Anne Hampton saß allein im Wagen und sah mit geringer Aufmerksamkeit Douglas Jeffers dabei zu, wie er unter der Motorhaube herumfuhrwerkte, um Öl- und Wasserstand zu prüfen. Es war früh am Morgen, und sie befanden sich vor dem Sweet Dreams Motel in Youngstown, Ohio, nicht weit von der Interstate. Jeffers hatte, kurz nachdem sie das Motel entdeckt hatten, einen Witz gemacht und es in Bates Motel umgetauft. Sie wandte sich ab, und dabei fiel ihr Blick auf den Stapel Notizblöcke, den sie neben ihrem Sitz bereithielt. Sie zählte: elf. Sie fischte einen aus der Mitte heraus und schlug ihn an einer beliebigen Stelle auf: Eine von Jeffers’ zahlreichen Geschichtslektionen: Januar 1958, Charles Starkweather und Caril Ann Fugate. Lincoln, Nebraska und Umgebung. »Morde ohne Plan, ohne Sinn und Verstand, ohne Sorgfalt, ziemlich willkürlich und banal, nur nicht für Caril Anns Familie. Ein
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