Der Fotograf
wahrhaft amerikanischer Alptraum, wenn unsere Kinder sich gegen uns wenden. Charlie stilisierte sich nach dem Vorbild James Deans zu einem Rebellen und tötete zehn Menschen, darunter ihre kleine Schwester, ein Baby. 1959 kam erauf den elektrischen Stuhl.« Unter dem Eintrag hatte sie ihre Zusammenfassung von Jeffers’ trockenem Kommentar festgehalten: »Die beiden waren verliebt, aber am Ende erhob sie die Hand gegen ihn. Sie war vierzehn Jahre alt.«
Wenn sie gehetzt war, wurde ihre Handschrift groß und kindlich, fand sie, ganz anders als ihre sorgfältigen, präzisen Notizen aus den Seminaren an der Uni. Die Erinnerung daran war vage und verschwommen, als lägen sie Jahre zurück und nicht nur ein paar Wochen.
Anne Hampton las den Satz noch einmal: »Am Ende erhob sie die Hand gegen ihn.«
Jeffers hatte das in bitterem Ton gesagt, als ob dies der schockierende Teil wäre und nicht die Ereignisse davor. Sie sprach die Worte im Flüsterton, deutlich, doch so, dass er sie nicht hören konnte: »Am Ende erhob sie die Hand gegen ihn.«
Sie musste einen starken Überlebenswillen gehabt haben, dachte Anne Hampton.
Sie muss daran geglaubt haben, dass das Leben etwas Kostbares ist und dass sie noch etwas Besonderes oder auch nur etwas ganz Gewöhnliches aus sich machen konnte – trotz aller Düsternis, trotz Blut und Tod – und dass all das, was sie durchgemacht hatte, ihr Leben nicht zerstören konnte. Sie war erst vierzehn, und sie wusste, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Sie muss etwas gespürt haben, eine Magie, ein Wunder, eine Kraft, und dann hat sie beschlossen, am Leben zu bleiben.
Um jeden Preis.
Anne Hampton fragte sich, ob auch sie dieses Etwas irgendwoher bekommen konnte.
Sie betrachtete erneut die Zeilen auf dem weißen, blaulinierten Papier. Jeffers hatte sie einmal dabei beobachtet, wie sie verbissen mitschrieb, während er sprach, und er hatte gesagt, sieerinnere ihn an viele der Reporter, mit denen er schon zusammengearbeitet hätte, Männer, die ihr eigenes Steno entwickelt hätten, Hieroglyphen, die nicht einmal ein Entschlüsselungsexperte entziffern konnte, die der Verfasser aber so mühelos las wie eine gedruckte Seite.
Sie zitterte bei der Erinnerung an den Abend vor zwei Tagen, als er ihr erklärt hatte, er wolle ihre Notizen sehen.
Der Moment war entsetzlich gewesen.
Die Forderung kam zu später Stunde, nachdem sie in ein weiteres dieser austauschbaren Motels gezogen waren, nach allzu vielen Stunden auf dem Highway, vom Lärm und von den Scheinwerfern, die sich durch die Dunkelheit in sie hineinbohrten, ausgelaugt und erschöpft. Jeffers hatte sich ihr Gepäck geschnappt und gebrummt: »Nimm die Notizbücher mit.« Sie hatte sie behutsam und gequält vor sich her getragen, so als fehlte ihr die Kraft, daneben noch andere Gepäckstücke mitzunehmen. Er hatte die Tür geöffnet und ihre Taschen auf eins der Einzelbetten geworfen. »Lass mal sehen«, hatte er gesagt. Er hatte sich an den kleinen Frisiertisch gesetzt und über den Seiten gebrütet. Sie hatte sich in einem Sessel in der Ecke ganz klein gemacht und versucht, an nichts zu denken, doch eine einzige Angst marterte sie unablässig: Er wird meine Schrift nicht entziffern können, und dann merkt er, wie dumm ich mich angestellt habe, dass ich völlig nutzlos bin, und, Gott, dann bin ich verloren. Sie hatte die Augen geschlossen, um die Angst abzuschotten, doch das schabende Geräusch des Umblätterns der Seiten schien ohrenbetäubend. Nach ein paar Minuten hatte er sich die letzten Blätter vorgenommen und dann sämtliche Notizbücher zur Seite geschoben. Er hatte sich geräkelt und gesagt: »Himmel, bin ich müde. Also, die sind okay. Sogar gut. Ich kann sie problemlos lesen. Sicher, hier und da wird’s ein bisschen holprig, zumBeispiel, als du auf der Straße in Michigan, der mit den Frostbeulen vom letzten Winter, versucht hast, weiterzuschreiben. War wie auf der Achterbahn, und da gehen deine Zeilen hoch und runter, hoch und runter.« Er lächelte. »Aber alles in allem, würde ich sagen, hast du gute Arbeit geleistet. Wirklich gut. So wie ich es auch nicht anders von dir erwartet hatte.«
Sie hätte sich gewünscht, über sein Lob weniger erfreut zu sein.
Er hatte ihr die Notizbücher zurückgegeben und sie am Kopf berührt, fast wie man ein Haustier tätschelte oder wie ein priesterlicher Segen. Zuerst hatte sie die Berührung ent spannt. Sie war sitzengeblieben und hatte ihm hinterhergesehen, wie er ins
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