Der Fotograf
um und schlug mit der flachen Hand so lange gegen die weißgetünchte Fläche, bis seine Handfläche gerötet war; der Schmerz tat gut, solange er wenigstens für Sekunden seine Frustration überlagerte. Er dachte an die Polizistin und kochte innerlich vor Wut. Er hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschrien: Ich will es wissen!
Wo zum Teufel steckt die Frau?, dachte er aufgebracht.
Irgendwann verflog der Zorn und machte dem schrecklichen Gedanken Platz: Wo zum Teufel steckt
er?
Detective Barren hatte sich im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerboden niedergelassen und die Früchte ihrer Durchsuchung um sich ausgebreitet. Sie hatte sämtliche Lichter in derWohnung eingeschaltet, als wollte sie auf keinen Fall zulassen, dass die nächtliche Dunkelheit sich neben ihr einnistete. Es war spät, und sie war müde. Sie hatte das ganze Apartment systematisch abgesucht; von der Toilette im Badezimmer bis zu den Stapeln von Negativen in der Dunkelkammer. Sie hatte das Sofa und das Bettzeug, wenn auch vergeblich, nach Waffen gefilzt. In der Küche hatte sie alles aus den Regalen geholt. Jeder Schrank war leergeräumt. Die Kleider durchwühlt. Schubladen ausgekippt, Zeitungen überflogen und abgelegt. Nicht einmal ein Ticket von dem Besuch in Miami hatte sie gefunden. Nicht einmal eine Postkarte. Die Zeugen ihrer Suche lagen stapelweise ringsum auf dem Boden.
Sinnlos, dachte sie.
Sie merkte, wie Tränen der ohnmächtigen Wut und Verzweiflung in ihre Augen stiegen.
»Nichts, nichts, nichts«, rief sie laut.
Sie wusste, dass er irgendwo ein Schließfach haben musste, vielleicht auch einen Spind oder ein Zimmer. Irgendeinen Ort, an dem er den Bodensatz des Verbrechens aufbewahrte. Irgendetwas irgendwo, das ihn mit ihrer Nichte in Verbindung brachte.
Die Spannung, die sie in dieser Umgebung empfand, war nur schwer zu ertragen. Dass sie dem Beweis für den Mord dicht auf den Fersen war, wusste sie. Sie konnte es förmlich riechen; es drang ihr bis in die letzte Pore, bis ins Blut. Sie kannte das Gefühl von hundert Tatortdurchsuchungen, an denen sie teilgenommen hatte.
Dass er ein Mörder war, daran gab es keinen Zweifel. Das hatte ihr schon ein einziger Blick auf das Bücherregal gesagt. Fast sämtliche Titel hatten mit irgendeinem Aspekt von Verbrechen zu tun. Romane, Lehrbücher, Sachtexte, alle säuberlich aufgereiht. Viele davon kannte sie, andere nicht. Das hattesie tief beeindruckt. Er ist ein Mann, der sein Geschäft versteht, dachte sie.
Doch ein literarisches Interesse an Verbrechen ist kein Beweis.
Selbst wenn sie es seinem Bruder zeigte, würde er jede Schlussfolgerung von sich weisen und behaupten, das sei nur eine etwas morbide Neigung und sicher nichts Außergewöhnliches für einen Menschen, der so viel Gewalt und Tod fotografiert hat. Von ihrem Sitz auf dem Boden aus sah sie zu den Fotos an der Wand empor und fragte sich, wie es jemand aushalten konnte, sich mit so vielen verstörenden Bildern von Gewalt zu umgeben.
Sie hatte nichts in der Hand. Sie trommelte mit den Fäusten auf den Boden.
Dann nahm sie den Brief von einem Bruder an den anderen und las ihn zum hundertsten Mal:
Lieber Marty,
wenn du diese Zeilen in Händen hältst, ist eins von einer Reihe möglicher Szenarien eingetreten. Ich vermute, du erwartest eine Art Erklärung.
Du brauchst keine.
Du kennst sie bereits.
Dennoch tut es mir leid, dir Kummer zu bereiten.
Doch es war unvermeidlich.
Zwangsläufig vielleicht.
Wir sehen uns in der Hölle wieder.
In Liebe,
dein Bruder Doug
P. S.: Was hältst du von den Fotos? Ausdrucksvoll, oder?
Detective Barren ließ das Blatt auf den Schoß sinken. Die Worte sagten ihr nichts. In ihr tobte ein gewaltiger, brodelnder Hass. Ihr Herz schien in ihrer Brust zu brennen. Sie schmeckte bittere Galle auf der Zunge. Sie wollte dem Mörder ins Gesicht spucken. Sie wollte ihm eigenhändig den Hals umdrehen, so wie er es mit ihrer Nichte getan hatte.
Sie wollte etwas laut sagen, doch stattdessen drang ihr nur ein böses, animalisches Knurren aus der Kehle.
Endlich fand sie Worte: »Es ist nicht vorbei«, sagte sie. »Ich bin noch nicht fertig mit dir. Ich kriege dich. Ich kriege dich.«
Sie dachte an ihre Nichte.
»Ach, Susan«, stöhnte sie. Doch es klang weniger traurig als wütend.
Vor Zorn hatte sie alle Glieder verspannt, und sie kniete sich mitten im Zimmer nieder. Plötzlich fiel ihr Blick auf das Selbstporträt in der Ecke. Dieses spöttische Grinsen, als machte er sich über ihre
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