Der Fotograf
Schreibtischlampe in der Ecke. Er wog das Für und Wider einer einzigen Frage ab: Ob es besser war, es zu wissen, oder nicht. Konnte er, falls die Polizistin, wie er annahm, verschwunden war, und wenn sein Bruder, wie er ebenfalls vermutete, bald wieder mit seiner Klugscheißerei und seinem ominösen Gehabe bei ihm aufkreuzen würde, zum Status quo zurückkehren, dem prekären Frieden unter Brüdern?
Er wusste nicht, ob er die Kraft besaß, sich zu dieser Normalität zu zwingen.
Er versuchte, sich das Wiedersehen mit seinem Bruder vorzustellen. In seiner Phantasie war er ein strenger, unbeugsamer Richter, von einer Überlegenheit, die eigentlich dem Erstgeborenen zukommt; diesmal würde er sich nicht auf die Späße und Spiegelfechtereien seines Bruders einlassen, und Douglas Jeffers würde schließlich einknicken und ihm die Wahrheit sagen.
Und was dann?
Martin Jeffers vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, sich vor den Visionen, die er heraufbeschworen hatte, zu verstecken. Was würde er sagen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Bruder sich unter Tränen zu dem Verbrechen bekennen würde, mit dem sich die Polizistin in ihr Leben drängte. Was würde er sagen? Es tut mir leid, Marty, aber ich habe dieses Mädchen aufgerissen, und es lief alles bestens, bis sie nein gesagt hat; es ist wohl ein bisschen mit mir durchgegangen, weißt du, und vielleicht hab ich sie etwas zu hart rangenommen. Ich bin stark, Marty, und manchmal vergesse ich das, und auf einmal hat sie nicht mehr geatmet, ich konnte nichts dafür, es ist im Grunde ihre Schuld, und überhaupt, jemand anders ist für dieses Verbrechen ins Kittchen gewandert, weshalb sollen wir also etwas unternehmen? Es ist passiert, es ist vorbei, es ist, wenn du noch einmal drüber nachdenkst, nie passiert.
Er stand auf und wanderte durch das dunkle Zimmer.
Ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst. Er war schon immer wild, er dachte schon immer, er könne tun, was er will. Er war nicht wie ich, er war nicht diszipliniert, geduldig. Und er hat nie, nie, nie auf mich gehört.
Er hat dieses Mädchen getötet, verdammt!
Er musste dafür bezahlen.
Martin Jeffers setzte sich wieder.
Wieso?
Was würde das bringen?
Wieder stand er auf, um im nächsten Moment erneut in den Sessel zu sinken.
Weshalb ziehst du vorschnelle Schlüsse?
Die Ermittlerin war verschwunden. Die hatte sowieso eine Schraube locker.
Wieso lässt du dich so schnell dazu hinreißen, das Schlimmste von Doug anzunehmen? Du warst zu lange mit den Jungs in der Therapiegruppe zusammen. Du hast zu viele Lügen gehört, zu viele Ausflüchte, zu viele geschönte Versionen. Du bist zu sehr daran gewöhnt, dass immer die anderen schuld sind, nie derjenige, der es getan hat. Jahr um Jahr hast du dir all diese Horrorgeschichten anhören müssen, bis du nicht mehr klar denken konntest, und jetzt bist du bereit, die aberwitzigsten Schlüsse zu ziehen.
Geh ins Bett. Sieh zu, dass du ein bisschen Schlaf bekommst. Es wird sich alles klären.
Er lächelte. Die Einstellung wird wohl kaum den vier Jahren Medizinstudium und vier weiteren Jahren als Assistenz- und Oberarzt an der Heilanstalt gerecht. Hat Freud vielleicht irgendwo geschrieben, das wird sich alles klären? Was für eine Neo-Jungsche Theorie soll das sein? Passt wohl eher in die Ratgeberkolumne Dear Abby oder zur Briefkastentante Ann Landers. Wann hätten sich die Dinge je von selbst geklärt? Er hörte sein eigenes, trockenes Lachen, das durch die leere Wohnung hallte. Dennoch gehörte es zu den Grundsätzen seiner Zunft, den Dingen nicht vorzugreifen, und daran gab es nichts auszusetzen.
Wir werden sehen, sagte er sich.
Wir werden sehen, was Detective Barren zu sagen hat – falls sie sich je wieder blicken lässt.
Wir werden sehen, was Doug zu sagen hat.
Und dann werden wir entscheiden, was zu tun ist.
Für ihn kam die Entscheidung, abzuwarten, was als Nächstes passierte, einem Aktionsplan nahe. Das tat ihm gut, und er spürte plötzlich, dass er müde war. Verflucht noch mal, wie kannst du bei diesem ganzen Schlamassel je zu vernünftigen Schlüssen kommen, wenn du keinen Schlaf bekommst?
Wieder stand er auf und sah auf eine kleine Digitaluhr, auf der die Ziffern rot leuchteten. Es war vier Uhr morgens. Er räkelte sich und gähnte. Geh ins Bett!, befahl er sich, und die Antwort kam prompt: Jawoll, Herr Oberst!
Er machte drei Schritte Richtung Schlafzimmer.
Die Dinge werden sich klären.
Da klingelte
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