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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Türsteher getäuscht hatte, und sie auf dem Boden ausgekippt. Dann hatte sie den Papierbeutel mit den versteckten Fotos neu gefüllt, die sie in ihrer Ungeduld geknickt oder beschädigt hatte. Als sie die Wohnungstür hinter sich abgeschlossen hatte, war es ihr vorgekommen, als erwachte sie aus einem Alptraum, nur um der noch entsetzlicheren Wirklichkeit ins Auge zu sehen. So ähnlich musste es sein, wenn man aus einem unangenehmen Traum erwachte, weil um Mitternacht ein Einbrecher klirrend ein Fenster einschlägt oder in einem anderen Zimmer ein Feuer knistert.
    Der Turnpike führte eine Anhöhe hinauf. Rechts von ihr erhob sich mit heulenden Triebwerken ein Frachtjet vom Flughafen Newark, während zu ihrer Linken die riesigen weißen Öltanks des Hafens in den Flutlichtern glitzerten. Die Industrielandschaft schien ihr unpassend, fremdartig zu sein. Als der Highway von der Küste ins dunkle Landesinnere schwenkte, fühlte sie sich getröstet. Sie beugte sich vor und blickte in den schwarzen Himmel, um einen Schimmer Mondlicht zu erhaschen, das matt über verstreuten Gebäuden und Bäumen hing.
    »Gute Nacht, lieber Mond«, brach es aus einem hintersten Winkel ihres Bewusstseins hervor, »der hell am Himmel thront; gute Nacht, Bärchen, erzählt mir noch ein Märchen, gute Nacht Haus und gute Nacht Maus, gute Nacht dem alten Mann, der nicht schlafen kann, gute Nacht allen, das wird ihnen gefallen …«
    Sie versuchte, sich die anderen Gutenachtverse aus dem alten Kinderbuch ins Gedächtnis zu rufen, doch nach so vielen Jahren war sie sich nicht sicher. Mätzchen und Kätzchen? Sie dachte daran, wie ihre kleine Nichte in ihren Armen gelegen hatte, wie ihr Kopf heruntergesackt und die Flasche ihr aus dem Mund gerutscht war, wenn sie in tiefen, kindlichen Schlaf verfiel. Sie erinnerte sich daran, wie die Worte aus dem Buch immer ihre Wirkung taten. Sie brach nie vorher ab; falls Susan einschlief, bevor sie fertig war, las sie trotzdem weiter.
    »Gute Nacht, lieber Mond«, sagte sie noch einmal.
    Das Bild ihrer Nichte hatte sie hinter der Profilansicht dreier verhungernder afrikanischer Kinder gefunden, deren aufgerissene Augen und aufgedunsene Bäuche von ihren Qualen sprachen. Es war vielleicht das fünfzehnte oder zwanzigste Foto, das sie in ihrer verzweifelten Suche zerrissen hatte. Als sie den Rahmen mit bloßen Händen zerbrach, hatte sie die letzten Reste Selbstbeherrschung verloren. Dabei war ein Stück Glas abgesplittert, und sie hatte sich in den Daumen geschnitten – nicht tief, aber doch genug, um frisches Blut auf dem Bild zu hinterlassen.
    Zuerst hatte sie ihre Nichte gar nicht erkannt. Sie hatte in Jeffers’ Wohnung zu viele brutal zugerichtete Leichen gesehen, als dass ihr der Unterschied gleich ins Auge gesprungen wäre. Doch dann hatte die Form der Gliedmaßen sie aufgestört; und der Schopf strohblondes Haar, der selbst auf dem Schwarzweißbild deutlich ins Auge fiel, war ihr irgendwie vertraut erschienen. Die Züge wirkten ruhig; die Aufnahme war aus einem niedrigen Winkel und von der Seite gemacht, so dass der Horror der Fundortfotos, die sie sich immer und immer wieder angesehen hatte, etwas abgemildert schien. Der Unterschied zwischen dem zwar hastigen, doch beinahe liebevollen Schnappschuss von Jeffers und den klinisch ungeschönten,grellen Aufnahmen der Gerichtsmedizin oder ihrer Kollegen von der Spurensuche sprang ins Auge. Auf dem Foto, das sie in Händen gehalten hatte, schien Susan nur zu schlafen, und für dieses Detail war sie dankbar.
    Sie hatte das Foto wie gebannt angestarrt. Sie wusste nicht, wie lange. Sie hatte nicht geweint, doch es schien ihr die Seele auszusaugen. Dann hatte sie es behutsam, fast zärtlich beiseite gelegt und sich wieder ihrer unsäglichen Aufgabe zugewandt, die anderen gerahmten Bilder zu überprüfen.
    Dabei hatte sie sich für ruhig und selbstbeherrscht gehalten, doch als sie schließlich das Foto ihrer Nichte auf den wachsenden Stapel der anderen ermordeten Mädchen legte und gehen wollte, hatten ihre Hände gezittert.
    Auf ihrer Fahrt durch die Dunkelheit versprach sie stumm: Ich weiß nicht, wer ihr alle seid, aber ich bin jetzt für euch da.
    Ich bin da. Ich bin da. Ich weiß es. Jetzt weiß ich alles.
    Und ich werde es in Ordnung bringen.
    Sie grub die Finger ins Lenkrad und fuhr zügig in den Morgen.
     
    Martin Jeffers konnte nicht schlafen. Und er wollte es auch nicht.
    Er saß genau in der Mitte seiner Wohnung beim spärlichen Licht einer kleinen

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