Der Fotograf
gefallen.«
»Auf die eine oder andere Weise ist keiner verschont geblieben.«
»Hat es Sie erwischt?«
»Nein, als ich so weit war, gab es bereits die Einberufung nach Losverfahren, und ich habe die Losnummer dreihundertsiebenundvierzig gezogen. Normalerweise habe ich nicht sonderlich viel Glück, aber da schon. Es hat nie jemand bei mir angeklopft.«
»Und Ihr Bruder?«
»Das war seltsam. Er war ein paarmal da, aber immer im Auftrag irgendeiner Zeitschrift oder Zeitung. Er hat auch das College geschmissen. Er wäre eigentlich prädestiniert gewesen, aber sie haben ihn nie geholt. Keine Ahnung, warum.«
Er schwieg, bevor er sagte:
»Sie sind offenbar noch jung. Aber Sie haben nie wieder geheiratet?«
Sie musste gegen ihren Willen lächeln.
»Die erste große Liebe, schon an der Highschool. Gegen die glühenden jugendlichen Gefühle und die Erinnerungen, die man davon zurückbehält, kommt so schnell keiner an!«
Martin Jeffers lachte leise.
»Wie wahr«, sagte er und fragte als Nächstes: »Wieso sind Sie zur Polizei gegangen?«
»Mehr oder weniger Zufall, nehme ich an. In Miami gab es ziemlich genau zu der Zeit, als ich dorthin gezogen war, ein Gleichstellungsverfahren. Ich sah die Anzeige in der Zeitung, ich las, dass die Polizei per Gerichtsverfügung dazu verdonnert worden war, mehr Frauen und Minderheitenvertreter einzustellen, und dachte, es ist den Versuch wert …« Wieder lächelte sie. »Ist das nicht typisch amerikanisch? Ich hab mich auf die Annonce gemeldet, im Grunde nur aus Spaß. Dann hab ich gemerkt, dass ich gut war. Irgendwann hab ich festgestellt, dass ich das besser als irgendetwas anderes konnte. Und Sie?«
»Psychiatrie? Na ja, aus zweierlei Gründen wohl. Zum einen konnte ich kein Blut sehen, und wenn Sie ein erfolgreicher Arzt sein wollen, müssen Sie mit dem Saft ziemlich unbeschwert umgehen können. Zum anderen hasste ich den Gedanken, Patienten zu verlieren. Das schloss eine ganze Reihe Sparten meiner Zunft aus. Vermutlich gibt es noch ein Drittes: Es wird nie langweilig. Die Menschen finden immer wieder neue Varianten für eine Handvoll ähnlich gelagerter Themen …«
»Das stimmt«, bestätigte sie.
»Sehen Sie, wir klingen schon wieder ähnlich.«
Sie nickte. Sie dachte an den Brief, den sie in seinen Unterlagen gefunden hatte, den Laufpass einer ehemaligen Freundin. »Niemand, mit dem Sie das alles teilen?«
Sie sah, wie er seine Gedanken ordnete, bevor er den Mund öffnete.
»Nein … nicht wirklich. Ich weiß nicht, wieso, aber ich habe mich an ein ziemlich zurückgezogenes Leben gewöhnt, besonders, da die Arbeit in der Klinik so viel Zeit in Anspruchnimmt. Außerdem muss man sich in diesem Fachbereich, wie vermutlich in jedem anderen, ständig weiterbilden und auf dem Laufenden sein, das ist auch ziemlich zeitaufwendig. Also, nein, im Grunde niemand.«
Sie nickte und dachte: Und du hast panische Angst. Vor dir selbst.
Die Unterhaltung verebbte im rhythmischen Geräusch der Reifen auf dem Teer und dem stetigen Dröhnen des Motors. Detective Barren fand, dass sie sich bis jetzt einen guten Schlagabtausch geliefert hatten. Der Doktor rang ihr eine gewisse Achtung ab. Er steht unter erheblichem Stress, dachte sie, und trotzdem hat er seine Zunge unter Kontrolle. Sie hatte schon mit vielen gebildeten Männern zu tun gehabt, vor allem Kriminellen, die unter weit weniger Stress zu den reinsten Plaudertaschen wurden.
Sie fragte sich, ob er hinsichtlich seines Bruders richtig lag: Ob er tatsächlich ein Geständnis ablegen würde, wenn man ihn mit der Wahrheit und den Beweisen konfrontierte. Sie sah darin ein Problem. Einerseits konnte ein Geständnis – selbst eines, bei dem er mit seinen Taten prahlte – ausreichen, um ihn zu überführen.
Sie stellte sich ihre Nichte vor, wie sie unter dem Farn im Schatten der dunklen Palmen lag. Vielleicht würden sie ihm nicht alle nachweisen können, doch einige mit Sicherheit. Die Polizeiakten wimmelten von Beispielen, dass Verbrecher plötzlich Serienmorde gestanden, nachdem sie dabei erwischt worden waren, bei Rot über die Kreuzung zu gehen. Sie musste an den Mann in Texas denken, der sich zu zwei- oder dreihundert Morden bekannte, ein Gammler mit einer eigentümlichen mörderischen Neigung. Lucas, sie wusste sogar noch den Namen. Sie hatte das Foto aus einem Nachrichtenmagazin vor Augen, auf dem er neben einem Detective mitbreitkrempigem Cowboyhut vor einer Landkarte der südöstlichen USA stand. Der Hut war weiß, was
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