Der Fotograf
wohl den üblichen Gepflogenheiten in Texas entsprach. Vielleicht muss ten die Bösen dort schwarze tragen. Die Karte an der Wand hinter den beiden Männern war mit kleinen bunten Stecknadeln übersät, und sie hatte einen Moment gebraucht, bis der Groschen fiel und sie begriff, was die Nadeln mit dem Mann zu tun hatten, der so schamlos in die Kamera grinste.
Alle Künstler sind Egoisten, dachte sie. Alle Mörder auch.
Sie stellte sich Douglas Jeffers vor. Vielleicht hat sein Bruder recht. Vielleicht will er sich zu seinen Verbrechen bekennen, vielleicht gibt es ihm eine gewisse Befriedigung, im Rampenlicht zu stehen.
Sie sah ihn vor sich, wie er lächelnd posierte und sich in dieser perversen, typisch amerikanischen öffentlichen Aufmerksamkeit sonnte, die zwangsläufig mit jedem sensationellen Verbrechen einherging. Er würde es genießen.
Bilder und Szenen bestürmten sie: Charlie Manson, wie er vor Gericht plötzlich den Geschworenen die
Los Angeles Times
entgegenhält, mit der Schlagzeile: MANSON IST SCHULDIG, SAGT NIXON; David Berkowitz, wie er sich zu seiner eigenen Urteilsverkündung in den Gerichtssaal schleicht und plötzlich singt: »Stacy war eine Hure, Stacy war eine Hure«, wobei er das U wie ein irres Mantra dehnt, und die arme Familie des Opfers in ohnmächtiger Wut auf den Peiniger loszugehen versucht. Die
New York Times
hatte am nächsten Tag eine bemerkenswerte Federzeichnung davon gebracht. Sie und die Kollegen in ihrer Dienststelle hatten fassungslos darauf gestarrt. Oder Dr. Jeffrey McDonald, der einem Moderator von
60 Minutes
erzählte, er hätte seine Frau und die zwei kleinen Kinder nicht umgebracht, und schon gar nicht in einer Art psychotischem Anfall; seine Verurteilung wegen Mordessei daher ein vollkommener Irrtum oder schlimmer noch: eine Verschwörung.
Die Reihe der Verbrecher, die es durch eine Straftat und einen Prozess über Nacht in die Schlagzeilen brachten, riss in ihrem Kopf nicht ab: Sie sah den aristokratischen Claus von Bülow, wie er in schwarzer Lederkluft in Begleitung seiner Geliebten mit selbstzufriedenem, süffisantem Lächeln in die Kamera eines Fotografen von
Vanity Fair
blickte, nachdem er von der Anklage freigesprochen worden war, seiner Frau Insulin gespritzt und sie in ein irreversibles Koma gestürzt zu haben. Da war Bernhard Goetz vor einer Phalanx Mikrophone, mit dem freundlichen Blick über den Brillenrand, während er unter Blitzlichtgewitter und dem Knistern der Notizblöcke in die Kameras der Sechs-Uhr-Nachrichten erklärte, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen, als er die vier Teenager erschoss, die ihn in der U-Bahn angesprochen hatten.
In ihrem Kopf fügte sich Douglas Jeffers nahtlos in diese Parade ein, und bei dem Gedanken wurde ihr schlecht.
Sie kurbelte das Fenster herunter und atmete tief durch.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Martin Jeffers.
»Ja«, antwortete sie. »Ich brauchte nur ein bisschen frische Luft.«
»Sollen wir eine kurze Pause einlegen?«
»Nein«, sagte sie entschlossen, »erst, wenn wir da sind.«
Sie fuhren weiter.
Es war schon lange dunkel, als sie die Ausläufer von Manchester erreichten.
Sie hatten einmal zum Tanken gehalten, und Detective Barren war in die angrenzende Raststätte gegangen. Sie hatte Kaffee, ein paar Flaschen Limonade und zwei Sandwichs gekauft, eins mit Thunfisch und eins mit Schinken und Käse. Das Brotwar schwammig, weiß und in Plastikboxen versiegelt. Als sie wieder im Auto saß, hatte sie Jeffers beide hingehalten. »Suchen Sie sich eins aus.«
»Sagen Sie lieber, Sie dürfen das Gift selbst wählen«, hatte er beim Anblick der Brote geantwortet. Er hatte sich für Schinken und Käse entschieden und rasch hineingebissen. »Ich liebe Thunfisch«, hatte er geseufzt.
Sie hatte mitgelacht.
Er fragte sich plötzlich, wie lange es her war, dass er zuletzt eine Frau ungehemmt hatte lachen hören. Er glaubte nicht, dass er sie noch einmal zum Lachen bringen könnte. Er rief sich ins Gedächtnis, weshalb sie neben ihm saß und was sie tun würde, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bot.
Also mahnte er sich zur Vorsicht, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen durfte. Lass dich nicht einwickeln, schwor er sich.
Verwechsle ein Lachen nicht mit Vertrauen. Oder ein Lächeln mit Zuneigung.
Vertraue nichts und niemandem. Bleib wachsam. Er stählte sich gegen die Erschöpfung und fuhr weiter in die tiefe Nacht.
Als sie den Stadtrand von Manchester erreichten, entdeckte er das
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