Der Fotograf
können. Die sprechen es ›Roudailan‹ aus. Und ›Nehämpsche‹. Das historische Woodstock ist natürlich das in New York, auch wenn sie das Festival in Wirklichkeit woanders abgehalten haben. Erinnerst du dich?«
»Da war ich noch ein Kind«, antwortete sie. »Ich wusste nichts davon.«
»Ich war da«, erwiderte Jeffers.
»Tatsächlich? War es so groß, wie die Literatur behauptet?«
Er lachte.
»Eigentlich war ich nicht da …«
Sie sah ihn verwirrt an.
»Bestimmte öffentliche Ereignisse graben sich dank der Popkultur ins kollektive Gedächtnis ein. Woodstock ist so ein Ereignis. Ich kannte mal einen Mann, aus dem Zeitungsgeschäft, der war der Urheber des Woodstock-Mythos. Er fing gerade erst an, als Collegekorrespondent bei der
New York Daily News.
Es war Sommer, also fragten sie ihn, ob er zum Festival gehen wollte, nur für den Fall, dass da was Ungewöhnliches passierte. Sie hatten keine Ahnung, welche Menschenmassen zusammenkommen würden.
Na, jedenfalls fuhr er einen Tag vorher hin, um sich die Vorbereitungen zum Festival anzusehen, und das war sein Glück, denn bis zum nächsten Vormittag bildete sich ein zehn bis zwanzig Meilen langer Stau. Die Leute kamen scharenweise. Langmähnige. Hippies. Biker. Collegestudenten. Du hast sicherden Film gesehen. Na, jedenfalls wurde daraus diese geballte Massenveranstaltung, dieses einmalige Musik-Event, und plötzlich war es auf den Titelseiten. Mein Kumpel sitzt also hinter der Bühne am Telefon und hat die Lokalredaktion der
News
in der Leitung, und dieser Redakteur brüllt am anderen Ende: ›Wie viele Leute sind da? Wie viele Leute?‹, und natürlich hatte der Kerl keinen blassen Schimmer. Ich meine, so weit das Auge reichte, sah er ein einziges Meer aus Menschen, Trucks und Hubschraubern, die darüberdröhnten, und Bands, die die Lautstärke voll aufdrehten und was weiß ich. Und der Redakteur fordert: ›Wir brauchen eine offizielle polizeiliche Schätzung!‹ Also läuft unser Freund zum nächstbesten Cop und fragt ihn, wie ihre Schätzungen liegen, und natürlich sieht der Kerl ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Woher er das wissen sollte. Mein Kumpel läuft zum Telefon zurück, und der Redakteur merkt plötzlich, dass es hier um seinen eigenen Arsch geht, weil sie es mit der größten Nummer auf lange Zeit zu tun haben und er so dämlich war, einen College-Teilzeitkorrespondenten darauf anzusetzen, und jetzt sind die Straßen verstopft und sämtliche Helikopter durch die Fernsehsender ausgebucht, also keine Chance, einen richtigen Reporter hinzuschicken.
Und da kommt meinem Kumpel die richtige Eingebung. Er beschließt zu lügen.
Also brüllt er ins Telefon: ›Die Polizei schätzt, dass über eine halbe Million Menschen in dieses verschlafene Nest eingefallen sind. Mit einem Schlag ist Woodstock die drittgrößte Stadt im Staate New York!‹ Und das ist so recht nach dem Geschmack des Redakteurs. Er lässt es sich auf der Zunge zergehen. Am nächsten Tag ist es der Aufmacher auf der Titelseite. Nachdem die
News
mit der Zahl getitelt hat, greift die
Times
sie auf, dann die Associated Press und damit die ganze Welt.Und schwupp ist die Lüge meines Kumpels ein historisches Faktum …«
Er schnippte mit den Fingern.
»Einfach so. Alle sind zufrieden, und alle sind überzeugt, genau so viele Menschen wären da gewesen. Nur weil mein Kumpel den richtigen Instinkt hatte, jemandem eine Lüge aufzutischen, der nach einer Lüge lechzte.«
Douglas Jeffers schwieg. Wie schon so oft, schien sein Ton zwischen der kindlichen Freude am Geschichtenerzählen und einem diffusen Hass hin und her zu wechseln.
»Also lüge ich jetzt auch.«
Er grinste, dann schnitt er eine Grimasse.
»Ich behaupte einfach, ich war da. Ich meine, wer will das nachprüfen?«
Douglas Jeffers verstummte, und Anne Hampton sah, dass sich in die unbekümmerte Erzählfreude ein düsterer Gedanke eingeschlichen hatte. Sie schnappte sich eins der Notizbücher und machte sich eilig eine Reihe von Notizen über Woodstock und eine halbe Million Besucher, über einen Kerl in ihrem Alter, der sich eine Ziffer aus den Fingern gesogen hat.
»Siehst du, das beschreibt ziemlich genau, was wir bei der Zeitung machen. Wir schaffen einen gemeinsamen Erfahrungsschatz. Wer könnte von sich sagen, er wäre nicht in Vietnam gewesen? Wir wurden mit Bildern überflutet. Und der Aufstand von Watts? Oder ein bisschen aktueller: Beirut. Das Erdbeben von Mexico City. Die Entführung
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