Der Fotograf
weiter, bis er ein langes, zylindrisches Lederfutteral fand. Er klemmte es sich unter den Arm und rannte die Straße zurück. Er schärfte seinen Blick und versuchte, in der schwarzen Nacht einzelne Formen auszumachen. Er suchte die Gegend nach irgendwelchen Lebenszeichen ab. Er spähte in die Dunkelheit und hielt nach den verräterischen Scheinwerferkegeln in der Ferne Ausschau. Er horchte auf irgendwelche Geräusche, die verrieten, ob ein anderes Fahrzeug in ihre Richtung kam. Außer dem leisen Rascheln des Windes in einer Gruppe Fichten in der Nähe war es vollkommen still. Er blickte in die Ferne und versuchte, das Rauschen des Wildbachs unterhalb der Böschung zu hören.
Er musste plötzlich daran denken, was man in seiner Kindheit sagte: Wer bei Nacht gut sehen will, muss Karotten essen. Die ganze Zeit. Und ich sehe ziemlich gut im Dunkeln. Aber ichsehe noch viel besser, wenn ich ein Starlight-Scope zu Hilfe nehme.
Er öffnete das Lederfutteral und hielt den Zylinder ans Auge. Es tauchte die Landschaft in ein schmutziges Grün, und er drehte es in alle Richtungen, um sich davon zu überzeugen, dass ihn seine Sinne nicht getäuscht hatten. Er war allein. Ihm kam der Gedanke, dass er auf seinem einsamen Posten einem alten Seefahrer glich, der auf offener See dahintrieb und den Horizont nach Land absuchte. Er starrte die Straße entlang in die Ferne.
»Aha«, sagte er. »Wir bekommen Besuch.«
Er sah den aufgemotzten Jeep übermütig durch die Nacht heranbrausen.
»Tja, tja, tja, es geschehen noch Zeichen und Wunder.«
Außer ihm und dem nahenden Fahrzeug war weit und breit niemand zu sehen. Er hatte die beiden Teenager im Jeep vor Augen, wie sie in ihrem offenen Gefährt lachend die Haare im Fahrtwind flattern ließen und die Köpfe nach hinten warfen. Dazu dröhnte zweifellos die Stereoanlage, und ihre Aufmerksamkeit war von ein paar Bier beeinträchtigt. Er drehte sich um und rannte zu seinem Wagen zurück. Er sah Anne Hamptons Gesicht durch die Windschutzscheibe auf sich gerichtet. Er sah, wie sie, ahnend, was bevorstand, sich in ihrem Sitz zusammenkauerte. Er handelte schnell, doch überlegt. Er nahm das Gewehr aus dem Kofferraum und fühlte sein Gewicht in den Händen. Nichts ist so beruhigend wie ein zuverlässiges Gewehr im Arm, dachte er. Dann eilte er durch die pechschwarze Nacht wieder zu seinem Aussichtspunkt und ging, ein wenig vorgebeugt, doch seiner Sache sicher, in Position wie ein erfahrener Soldat, der sich unter dem Beschuss von Handfeuerwaffen wegduckt.
Ein letztes Mal schaute er sich um und vergewisserte sich,dass er alleine war. Er dachte einen Moment an Anne Hampton im Wagen, aber dann verbannte er sie aus seinem Kopf. Er hob den Kolben an die Wange und richtete das Visier genau zwischen die Scheinwerfer des Jeeps.
»Fahrt unten lang«, befahl er.
Sie gehorchten.
Er fand es verblüffend, wie ihn und seinen Finger beinahe so etwas wie eine elektrische Spannung mit dem Abzug und dem Ziel in seinem Visier verband. Er drückte den Kolben eng an die Wange und streichelte den Abzug mit dem Finger.
»Gute Nacht, Jungs.«
Er feuerte siebenmal. Das krachende Geräusch erschien ihm fast überirdisch, als ob das Gewehr von unsichtbarer Hand in den dunklen Himmel gehoben würde und mit dem Strahl eines Sterns zur Erde zielte.
Als er die Waffe senkte, sah er, dass der Jeep ins Schleudern geraten war und um Bodenhaftung kämpfte. Außer dem Echo der Schüsse konnte er jedoch nichts hören. Es klang wie Musik in seinen Ohren, wie ein altes Lied, das man nicht aus dem Kopf bekommt. Er musste plötzlich an eine Situation in Nicaragua denken – oder war es Vietnam gewesen? –, als er sich beim Zischen einer Rakete umgedreht und gesehen hatte, wie sie in einen Jeep einschlug. Es hatte eine Explosion gegeben, er hatte die Kamera gezückt und Schärfe und Blende beinahe gleichzeitig eingestellt, um den Feuerballon und die durch die Luft wirbelnden, zerfetzten Leiber einzufangen. Er entsann sich genau, wie wenig er damals hörte. Keine Schreie, keine Explosionen, keine Hilferufe, nur das vertraute Sirren des Autodrive. Er wollte gerade sein Gewehr an die Augen heben, als er merkte, dass es keine Kamera war, und es hängen ließ.
Der Jeep legte sich auf die Seite. Er wusste, dass das Metalllautstark über den Asphalt schleifte und die Reifen quietschten. Er sah vor sich, wie der Wagen kurz vor der Schlucht gleich einem sterbenden Dinosaurier, der im dunklen Wasser Zuflucht sucht, dumpf aufschlug.
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