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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Mund und Nase Blut verkrustet hatte, das sie aber wegbekam, als sie energisch genug daran schrubbte. Sie spürte, wie sie mit einem Schlag die Erschöpfung überwältigte, und musste sich am Waschbeckenrand festhalten, um nicht zu fallen.
    Als sie wieder ins Zimmer trat, sah sie, dass Douglas Jeffers das Bett für sie aufgeschlagen hatte. Sie ließ die Jeans zu Boden gleiten und kroch dankbar hinein. Er verschwand ins Bad, und sie hörte Wasser laufen, dann die Toilettenspülung. Er kam heraus und stieg in das andere Bett. Er schaltete das Licht aus, und die Dunkelheit schwappte über sie wie eine Welle am Strand.
    Eine Weile schwieg er, dann sagte er:
    »Boswell, hast du je darüber nachgedacht, wie gefährdet das Leben ist?«
    Sie antwortete nicht.
    »Nicht nur die täglichen Gefahren, sondern das Leben als solches hängt an einem seidenen Faden. Denk mal an die Mutter, die ihrem Kind einen Moment den Rücken kehrt, und es läuft prompt auf die Straße. Oder den Vater, der nur dieses eine Mal zu faul ist, sich auf dem Weg zur Arbeit anzuschnallen. Unfälle. Krankheiten. Pech. Den einen erlöst der Tod, gewiss. Aber die Hinterbliebenen bringt er aus dem Gleichgewicht, aus der Bahn. Sie verlieren ihre Mitte. Denk nur mal an all die Menschen, die du gekannt hast und die dich geliebt haben. Stell dir nur mal einen Augenblick lang vor, was dein Tod für sie bedeuten wird …«
    Sie schloss die Augen. All ihre tapferen Vorsätze waren verflogen, und sie wollte nur noch weinen.
    »… oder was ihr Tod für dich bedeuten würde. Leere. Ein tiefes Loch. Erinnerungen, die man nicht vertreiben kann. Vielleicht irgendwo ein Fotoalbum. Ein Grab, das man einmal im Jahr besucht. Wir sind alle auf so vielfältige Weise miteinander verbunden, unser seelisches Gleichgewicht hängt von anderen Menschen ab. Söhne und Väter. Töchter und Mütter. Brüder. Schwestern. Alles ein brüchiges Beziehungsgeflecht. Zu eng verwoben, und alles so zerbrechlich wie Porzellan.«
    Er schwieg einen Moment und wiederholte dann mit Nachdruck:
    »Zerbrechlich. Zerbrechlich. Zerbrechlich.«
    Wieder zögerte er.
    »Ich hasse das mehr als irgendetwas sonst«, gab er zu. Seine Stimme war nur noch mühsam beherrscht und voller Bitterkeit. »Ich hasse es, dass wir nicht selbst bestimmen können, wer wir sind. Ich hasse es, keine Wahl zu haben. Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es, hasse, hasse, hasse …«
    In der Dunkelheit konnte Anne Hampton sehen, dass DouglasJeffers auf dem Rücken lag und beide Hände in der Luft zu Fäusten ballte.
    Er atmete heftig aus.
    »Alle sind Opfer«, stellte er fest. »Alle. Nur ich nicht.«
    Dann hörte sie, wie er sich auf die Seite rollte und dem Schlaf überließ.
     
    Am Morgen fuhren sie Richtung Norden und stießen in New Haven auf die Route 91, die an Hartford vorbei nach Massachusetts führt. Sie hatte den Eindruck, dass Jeffers wieder Herr über sich war; er sah auf die Uhr, schätzte Entfernungen, achtete auf die Zeit. Das beruhigte und entspannte sie, zumindest bis etwas Neues geschah.
    Sie erreichten den südlichen Zipfel von Vermont am frühen Nachmittag und fuhren in gemächlichem Tempo weiter nach Norden. Fast wie nebenbei fragte sich Anne Hampton, ob es nach Kanada gehen würde. Sie versuchte, sich irgendwelche Verbrechen in Erinnerung zu rufen, die dort passiert waren, und spekulierte, was er ihr dort wohl zeigen wollte. Ihr fiel nichts ein, war jedoch davon überzeugt, dass sich auch dort Menschen gegenseitig umbrachten. Es ist kalt, dachte sie, es herrschen Frost und Dunkelheit, und die langen Winter können nichts Gutes bedeuten.
    Bevor sie den Gedanken weiterspinnen konnte, sagte Douglas Jeffers: »Hier oben gibt es eine kleine Stadt, die du sehen solltest …«
    Das war alles, was er über Woodstock verriet, und für Stunden schwieg er sich aus. Sie wird schon sehen, dachte er. Im Geist ging er noch einmal die verbleibenden Punkte seiner Planung durch. Er wollte in seiner Aktentasche den Brief der Bank in New Hampshire hervorsuchen, doch er wusste, dass das nicht nötig war. Sie erwarten dich morgen früh, beruhigteer sich. Es wird schnell und zügig vonstatten gehen, ganz nach meinen Wünschen.
    Als er von der Durchgangsstraße in Richtung der Kleinstadt abbog, fragte er: »Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass fast jeder dieser alten Bundesstaaten in New England sein eigenes Woodstock hat? Vermont, New Hampshire, Massachusetts. Vermutlich sogar Rhode Island, wenn sie es reinquetschen

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