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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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statt den Männern ein Thema oder einen Gedanken wie einen Knochen hinzuwerfen, an dem sie sich für den Rest der Zeit die Zähne ausbeißen konnten, dachte er an New Hampshire und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie es war, als er ihre leibliche Mutter zum letzten Mal sah. Er hatte sie in einem hintersten Winkel seiner Erinnerungen abgespeichert, ein bleiches Gesicht in einem Autofenster, das sich ein letztes Mal umdreht, bevor es für immer aus seinem Leben verschwindet. Er sah es so deutlich vor sich wie in der Nacht, als es passierte. Er hatte diesen Anblick noch niemandem beschrieben, am wenigsten seiner eigenen Analytikerin. Er wusste, dass er damit das Vertrauensverhältnis grundlegend verletzt hatte, auf dem er scheinheilig gegenüber seinen eigenen Patienten bestand. Ich bin davon nicht frei, dachte er. Werde ich wohl nie sein. Er dachte an seine leibliche Mutter. Was hatten wir falsch gemacht? Er kannte die Antwort: nichts. Die alten Griechen zäumten dasPferd beim Schwanz auf, überlegte er. Die Psychiatrie hat bewiesen, dass die Sünden der Eltern die Kinder heimsuchen. Zuerst wurden wir im Stich gelassen und dann grausam und herzlos behandelt. Die klassischen Ursachen der Verzweiflung. Ist es da verwunderlich, dass Doug als Erwachsener angetreten ist, um sich an einer Welt zu rächen, die ihn so gehasst hat?
    Aber wieso er und nicht ich?
    Wo steckt er?
    »Also, Doc, was geht Ihnen so auf den Senkel? Sie sehen aus, als stünden Sie mit einem Bein im Grab.«
    »Kann man wohl sagen. Wollen Sie uns gleich mitnehmen?«
    Es folgten nervöse Lacher aus der Runde.
    Martin Jeffers hob den Kopf und sah, dass die Fragen von Bryan und Senderling kamen, doch dass sämtliche Männer ihn mit fragenden Blicken durchbohrten.
    Sein erster Instinkt riet ihm, die Fragen zu ignorieren und die Gruppe in eine andere Richtung zu steuern. Das wäre die angemessene Technik gewesen. Schließlich sollten die Patienten sich mit den eigenen Problemen befassen und nicht mit denen des Therapeuten. Doch zugleich hatte sich in ihm so viel Ärger angestaut, dass er versucht war, all die ach so hehren Grundsätze seines Berufsstands über Bord zu werfen und sich ein einziges Mal auf die Pfiffigkeit der Männer zu verlassen.
    »Seh ich so schlimm aus?«, fragte er in die Runde.
    Für Sekunden herrschte Schweigen. Die direkte Frage verblüffte sie. Schließlich brummte Miller aus der Tiefe des Raums: »Das können Sie laut sagen. So, als ginge Ihnen was mächtig im Kopf herum …«
    Er lachte trocken.
    »… was mal was anderes wäre.«
    Wieder war es still, dann brachte Wasserman stotternd heraus: »Wenn S-S-Sie s-s-s-sich nicht so toll fühlen, k-k-k-können wir ja morgen wiederkommen …«
    Jeffers schüttelte den Kopf. »Mir fehlt nichts, nicht körperlich.«
    »Was haben Sie dann, Doc? Hat Sie so was wie ’ne emotionale Grippe erwischt?« Das war Senderling, und Bryan fiel in sein Lachen ein.
    Was für ein treffendes Bild: eine emotionale Grippe. Das werde ich mir merken.
    »Ich mache mir Sorgen um einen Freund«, erklärte er.
    Es herrschte kurzes Schweigen, dann ergriff wieder Miller das Wort: »Hol mich der Teufel, wenn Sie nur besorgt sind. Sie sind krank vor Angst. Ich bin verdammt noch mal kein Arzt, aber so viel kann ich sehen. Da ist doch mehr im Busch, hä? Mehr als nur Sorge?«
    Jeffers antwortete nicht. Er sah der Runde in die forschenden Augen, und die zwölf Männer erinnerten ihn an zwölf Geschworene vor Gericht, die nur darauf lauerten, dass er sich verplapperte und sich selbst ans Messer lieferte.
    Er fixierte Miller.
    »Sagen Sie mir eins«, fing er an und verlieh seiner Stimme Nachdruck, »sagen Sie mir, wie es bei Ihnen angefangen hat.«
    »Wie meinen Sie das?«, gab Miller zurück und wechselte unruhig die Stellung.
    Wie alle Sexualverbrecher hasste er direkte Fragen und zog es vor, wenn man ein Thema indirekt anging und ihm das Gefühl gab, den Gesprächsverlauf unter Kontrolle zu haben. Vermutlich, dachte Jeffers, verwirrte eine unverblümte Frage sie alle.
    »Ich will wissen, was Sie anfänglich dazu gebracht hat, das zu tun, was Sie getan haben.«
    »Sie meinen, die …«
    »Ja. Was Sie Frauen antun. Sagen Sie es mir.«
    Es herrschte vollkommene Stille im Raum. Die Wucht, mit der Jeffers’ Forderung herausbrach, hatte sie alle verstummen lassen. Er wusste, dass er gegen eherne Regeln verstieß. Doch er hatte die Regeln plötzlich satt, er hatte das Warten, das Aussitzen satt.
    »Sagen Sie es mir!«

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