Der Fotograf
erkleckliches Sümmchen aufbesserte. Die Collegekids, dachte er, bilden sich immer ein, sie beherrschten das Spiel, dabei müssen sie es erst noch richtig lernen.
Er betrachtete das Bündel Strafmandate und kam zu demSchluss, dass morgen auch noch ein Tag sei. Die meisten Dinge konnten warten, selbst in der Hochsaison. Er gähnte und nahm träge das Polizeifunkgerät auf der Ecke seines Schreibtischs zur Hand.
»Leitstelle, hier Eins-Alpha-Eins, West Tisbury, ich bin zehnsechsunddreißig von der Zentrale entfernt. Bitte stellen Sie mich auf Notfunkfrequenz durch, roger!«
»Hallo, Holt, wie geht’s, wie steht’s heute Abend?«
»Äh, gut, Leitstelle.«
»Hat Sylvia das Rezept bekommen, das ich ihr geschickt habe?«
»Ähm, roger, Leitstelle.«
Er hasste es, wenn Lizzie Barry die Spätschicht beim Notruf schob. Sie war älter als er und schon ein bisschen senil. Sie hielt sich nie an die korrekte Terminologie.
»Eins-Alpha-Eins, verstanden, roger.«
»Gute Nacht.«
Er hängte das Mikro ein und fing an, seine Sachen zusammenzusuchen, als er die Frau zur Tür hereinkommen sah. Er lächelte.
»Gerade dabei, dichtzumachen, Ma’am. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bräuchte eine Wegbeschreibung«, sagte Mercedes Barren.
»Ach so, sicher«, antwortete Holt und musterte die Frau. Trotz Jeans und Sportshirt wirkte sie nicht wie ein Feriengast. Sie verströmte Großstadtflair, und Holt hatte das dumpfe Gefühl, dass es um etwas Geschäftliches ging. Wahrscheinlich mal wieder ein Bauunternehmen, schätzte er.
»Ich bin auf der Suche nach einer Stelle, an der vor zwanzig Jahren ein Unfall passiert ist.«
»Ein Unfall?« Holt setzte sich und wies auf den Stuhl ihm gegenüber. Seine Neugier war entfacht.
»Vor ungefähr zwanzig Jahren ist ein Geschäftsmann aus NewJersey, ein Drogeriebesitzer, vor South Beach ertrunken. Ich muss wissen, wo dieser Unfall passiert ist.«
»Oh, hah, South Beach ist fast dreißig Kilometer lang, und zwanzig Jahre sind eine Ewigkeit. Da bräuchte ich es schon ein bisschen genauer.«
»Erinnern Sie sich an den Unfall?«
»Ma’am, ich will ja nicht unhöflich sein, aber hier ertrinken jeden Sommer ein, zwei Leute. Nach einer Weile nivelliert sich das. Gehört sowieso in die Zuständigkeit der Küstenwache, ich hab nur ein bisschen mit dem Papierkram zu tun.«
»Ich habe den Zeitungsartikel dabei. Würde Ihnen das weiterhelfen?«
»Kann zumindest nicht schaden.«
Er beugte sich vor, während Mercedes Barren die alte Ausgabe der
Vineyard Gazette
aus ihrer Tasche zog. Holt erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Lauf der Automatik und platzte, ohne sich eine gescheite Frage zu überlegen, heraus: »Sie tragen eine Waffe bei sich, Ma’am?«
»Ja«, bestätigte sie und zog ihre Dienstmarke heraus. »Ich hätte mich vorstellen sollen. Ich bin Detective Mercedes Barren, Kripo Miami.«
Holt war hocherfreut.
»Wir haben hier oben selten das Vergnügen mit Kollegen, ähm, Leuten aus der Großstadt. Arbeiten Sie hier an einem Fall?«
»Nein, nein, nur zu Besuch bei Freunden.«
»Ach so«, meinte er enttäuscht. »Wozu dann die Waffe?«
»Reine Gewohnheit, tut mir leid.«
»Hm, hm. Dann wollen Sie sie vielleicht bei mir lassen?«
»Chief, ich reise morgen früh ab, und wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich sie lieber behalten. Können Sie nicht für eine Kollegin ein Auge zudrücken?«
Er beantwortete die Frage mit einem Lächeln und einer zustimmenden Handbewegung. »Bin nur nicht sonderlich scharf drauf, Handfeuerwaffen auf der Insel zu haben. Ist noch nie was Gutes dabei rausgekommen.«
»Chief, das ist in der Großstadt nicht anders.«
Sie schob ihm die Zeitung hin. Er überflog die Seite. »Ja, kann mich dunkel erinnern. Der Kerl ist, glaube ich, in eine Unterströmung geraten. Hatte keine Chance.« Er sah Mercedes Barren an. »In Miami Beach haben Sie bestimmt keine Brandungsrückströme, möchte ich wetten.«
»Nein, Chief.«
»Also, eine solche Strömung bildet sich, wenn die Wellenbewegung den Sand am Grund aufwühlt, so dass praktisch ein Loch entsteht. Das Wasser fließt rein, und plötzlich muss es wieder raus. Wie in einem Kanal wird es komprimiert und fließt unter der Oberfläche ein paar hundert Meter ins Meer hinaus. Das Dumme ist, dass die meisten Menschen wie wahnsinnig strampeln, wenn sie merken, dass diese Strömung sie nach draußen zieht. Sie wissen nicht, dass sie nichts weiter zu tun brauchen, als sich treiben zu lassen und danach zum Strand
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