Der Fotograf
geht’s ihnen?«, fragte Douglas Jeffers.
»Sie haben Angst.«
»Dazu haben sie auch allen Grund.«
»Doug, bitte«, drängte Martin Jeffers. »Lass wenigstens die Familie gehen. Was haben sie denn getan …«
Der ältere Bruder fiel ihm abrupt ins Wort.
»Hast du denn den ganzen Tag nichts dazugelernt? Verdammt noch mal, Marty, ich hab es dir doch hundertmal erklärt. Es ist ja gerade wichtig, dass sie nichts getan haben. Das ist entscheidend. Siehst du das denn nicht? Die Schuldigen werden nie bestraft, nur die Unschuldigen. So läuft es nun mal auf der Welt. Die Unschuldigen und die Ohnmächtigen. Das sind die Opfer.«
Douglas Jeffers schüttelte den Kopf.
»Das kann doch nicht so schwer zu begreifen sein.«
»Ich versuch’s ja, Doug, glaub mir, ich versuch’s.«
Douglas Jeffers sah seinen Bruder unversöhnlich an.
»Dann streng dich noch mehr an.«
Sie verfielen in Schweigen. Douglas Jeffers spielte mit der Automatik herum, während Martin Jeffers ruhig dasaß. Anne Hampton nahm ihren Platz wieder ein und schlug ein neues Notizbuch auf.
»Schreib das alles auf, Boswell.«
Sie nickte und wartete. Es ist alles Wahnsinn, dachte sie. Es gibt keine Normalität mehr auf der Welt, nur Gewalt und Tod und Wahnsinn. Und ich bin ein Teil davon. Mit Haut und Haaren.
Sie nahm den Stift und schrieb: Niemand kommt hier lebendig raus.
Sie überraschte sich selbst. Es war das erste Mal, dass sie einen eigenen Gedanken in eines der Notizbücher geschrieben hatte.
Sie starrte den Satz an. Er machte ihr Angst. Die Worte auf den Seiten flirrten und waberten wie die Hitze über dem schwarzen Asphalt der Highways. Sie kämpfte gegen die Erschöpfung und den vernichtenden Gedanken an und ließ den Tag noch einmal Revue passieren, um die Angst mit Erinnerungen zu verdrängen.
Sie wusste nicht, wieso Douglas Jeffers die Ermordung der Simmons aufgeschoben hatte. Sie wusste nur, dass sie die Familie aus den Betten geholt, gefesselt, geknebelt, ihnen die Augen verbunden und sie anschließend ins Nebenzimmer gepfercht hatten. Dort hatte er sie zurückgelassen, während er selbst die Füße aufs Sofa gelegt und entspannt auf den Sonnenaufgang gewartet hatte. Danach hatte er ein ausgiebiges Frühstück gerichtet. Er hatte lediglich gesagt, das Spiel wäreumso spannender, wenn er sie einen Tag am Leben ließe. Das hatte sie erstaunt. Fast schien es ihr so, als nähme er sich absichtlich Zeit, um die Situation vollends auszukosten, statt zum nächsten Schritt überzugehen. Dass ihre Situation heikel war, schien ihn nicht anzufechten. Sie hatte keine Ahnung, was ihn dazu brachte, die Dinge in die Länge zu ziehen, doch es machte ihr Angst.
Wir haben das Ende erreicht, dachte sie.
Es ist die letzte Szene, und er will alles aus ihr herausholen.
In das Dickicht ihrer Angst waren zwei Gedanken eingedrungen:
Was wird er mit ihnen machen?
Was wird er mit mir machen?
Douglas Jeffers hatte Rührei und Schinken zum Frühstück zubereitet, doch sie hatte kaum einen Bissen herunterbekommen. Sie waren fast fertig gewesen, als der Wagen die Einfahrt herunterkam.
Die Vorstellung, dass jemand hier hereinstolperte und Douglas Jeffers in die Quere kam, hatte sie entsetzt. Als sie den Bruder sah, hatte sie sich kaum fassen können. Sie hatte augenblicklich angenommen, er sei genauso wie Douglas Jeffers. Als sie festgestellt hatte, dass sie sich irrte, verwirrte und beunruhigte sie das noch mehr.
Sie betrachtete erneut die beiden Männer.
Sie saßen nur über einen knappen Meter auseinander, doch Anne Hampton fragte sich, wie groß die innere Distanz zwischen ihnen sein mochte. Ihr drängte sich der Gedanke auf, das könnte wichtig für sie sein, doch sie wusste nicht, wieso.
Am liebsten hätte sie ihnen ins Gesicht geschrien: Ich will am Leben bleiben!
Doch stattdessen saß sie geduldig da und wartete stumm auf Anweisungen.
Bis jetzt hatten sie den Tag so verbracht, wie man es von einem Geschwisterpaar erwarten würde. Sie hatten von früher geredet, Erinnerungen ausgetauscht. Sie hatten ab und zu gelacht. Doch am frühen Nachmittag war die Unterhaltung ins Stocken geraten und unter dem unerbittlichen Druck der Situation allmählich versiegt, bis sie nur noch dasaßen und schwiegen.
Sie blätterte ein halbes Dutzend Seiten zurück und sah sich an, was sie geschrieben hatte. Martin Jeffers hatte gesagt: »Doug, ich kann einfach nicht glauben, wieso wir hier sind. Können wir darüber reden?«
Und Douglas Jeffers’ Antwort:
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