Der Fotograf
mit ihnen allen geschehen würde. Sie war innerlich losgelöst, fast so, als wäre sie gar nicht sie selbst, sondern stünde neben sich, für andere unsichtbar, und verfolgte von einer Loge aus das Geschehen auf der Bühne. Sie erinnerte sich, dass sie sich schon einmal so gefühlt hatte, und zwar während dieser Mordeund in den ersten Augenblicken im Motel. Wie lange war das her? Sie hätte es nicht sagen können. Sie glaubte, dass das Gedächtnis immer so funktionierte – wie eine Aneinanderreihung unendlich vieler Momentaufnahmen, Filmausschnitte, die an den Rändern verschwammen und in ruckartigen Bewegungen an einem vorüberflimmerten.
Ich sehe noch vor mir, wie ich durch den Schnee renne. Ich sehe, wie mir vor Kälte das Gesicht brennt, aber ich weiß nicht mehr, wie es sich angefühlt hat. Ich hätte ihn nicht retten können, dachte sie. Sie sah den Obdachlosen und den Mann, der allein die Straße entlangging, und die beiden Frauen, die davongekommen waren – wie hießen sie noch gleich? –, und dann die Teenager im Wagen.
Ich kann überhaupt niemanden retten. Ich kann nicht, ich kann einfach nicht. Ich durfte es nicht. Ich wollte es, o mein Gott, ich wollte ihn retten, er war mein Bruder, aber ich konnte es nicht, ich konnte es nicht, ich konnte es nicht. Ich kann nicht.
Sie hätte am liebsten geweint, wusste aber, dass es nicht erlaubt war.
Beim Klang von Douglas Jeffers’ Stimme fuhr ihr Kopf hoch, und sie sprang vom Stuhl.
»Bring unseren Gästen Wasser.«
Sie nickte und rannte in die Küche. Im Wandschrank über dem Herd fand sie einen Krug, den sie mit Wasser füllte. Zügig, aber darauf bedacht, nichts zu verschütten, durchquerte sie das Wohnzimmer, wo die beiden Brüder einander gegenübersaßen und, nachdem sie den ganzen Tag geredet hatten, in Schweigen verfallen waren.
Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer im Erdgeschoss und trat leise ein. Sie nahm an, dass sie vielleicht schliefen, und wollte niemanden wecken, doch beim Geräusch ihrer Schritteauf dem Holzboden sah sie, wie vier Augenbrauenpaare ängstlich in die Höhe schnellten.
Sie fühlte sich erbärmlich.
»Schon gut, schon gut«, versicherte sie und wusste, wie dumm das klang, wie albern es war, sie trösten zu wollen. Es war klar, dass sie sterben würden, und zwar bald. Das war von Anfang an der Plan gewesen.
Dass sie x-beliebige Leute waren, hatte für ihn nichts zu sagen. Das Entscheidende war, dass sie sich in diesem Moment an diesem Ort befanden, der offensichtlich für ihn von Bedeutung war.
Kurz bevor sie durch eine Schiebetür auf der Veranda, die praktischerweise offengestanden hatte, um die frische Sommerbrise hereinzulassen, in das Haus einbrachen, hatte er ihr zugeflüstert: »Ich muss dieses Haus mit Gespenstern füllen.«
Sie legte der Frau sanft die Hand auf den Arm, um sie zu beruhigen.
»Ich hab Ihnen Wasser gebracht«, sagte sie. »Nicken Sie einfach, wenn Sie etwas trinken wollen. Sie zuerst, Mrs. Simmons?«
Die Frau nickte, und Anne Hampton lockerte den Knebel. Sie hielt ihr den Krug an die Lippen. »Trinken Sie nicht zu viel«, mahnte sie. »Ich weiß nicht, ob er mir erlaubt, mit Ihnen zur Toilette zu gehen.«
Die Frau hielt mitten in einem großen Schluck inne und nickte wieder.
»Ich habe Angst«, flüsterte die Frau, die das Wasser hinuntergeschluckt hatte. »Können Sie uns nicht helfen? Sie scheinen ein so nettes Mädchen zu sein. Sie sind offenbar nicht viel älter als die Zwillinge, bitte, bitte …«
Anne Hampton wollte gerade etwas erwidern, als sie aus demWohnzimmer eine Stimme hörte.»Nicht reden. Nur einen Schluck Wasser. Ich muss mich an die Regeln halten.«
»Bitte«, flehte die Frau.
»Es tut mir leid«, wisperte Anne Hampton zurück. Sie band ihr den Knebel wieder um, zog ihn aber diesmal nicht so fest. Die Frau nickte dankbar.
Anne Hampton ging zuerst zu einer der Zwillingsschwestern weiter, dann zu der anderen. »Nicht reden«, bat sie die beiden im Flüsterton. Als sie zum Vater kam, zögerte sie. »Bitte«, beschwor sie ihn, »riskieren Sie nichts, fordern Sie ihn nicht heraus.« Der Mann nickte, und sie löste seinen Knebel. Er trank, und sie knebelte ihn erneut. Einen Moment lang versuchte er, sich aus dem Strick zu winden, mit dem sie alle zusammengebunden waren. Sie hörte, wie der Mann durch den Knebel flehte: »Bitte helfen Sie uns«, doch was sollte sie sagen?
»Es tut mir leid«, erwiderte sie nur.
Sie schloss die Tür und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Wie
Weitere Kostenlose Bücher