Der Fotograf
nennen sie die Lost Boys.«
»Wissen sie davon?«
Martin Jeffers zuckte die Achseln. »Sie sind jedenfalls eine Sorte für sich.«
»Sicher«, vermutete Douglas Jeffers. »Keine Allerweltstypen.«
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
Sie schwiegen einen Moment.
»Eines wüsste ich gern«, setzte sein Bruder an. »Was magst du an der Fotografie am liebsten?«
Douglas Jeffers dachte sorgfältig über die Frage nach, bevor er antwortete: »Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Bild unauslöschlich ist; es hat etwas Makelloses, beinahe Heiliges. Es lügt nicht, es kann nicht lügen. Es fängt die Zeit und die Ereignisse vollkommen ein. Wenn du dir in deinem Beruf etwas ins Gedächtnis rufen musst, dann musst du in die Vergangenheit hinabsteigen, mit all ihren verworrenen Emotionen, ihren Ängsten und Knäueln anderer Erinnerungen. Ich nicht. Wenn ich einen Blick in die Vergangenheit werfen will, kann ich einen Band aufschlagen und mir ein Foto raussuchen. Völlig unbelastet. Die reine Wahrheit.«
»So einfach wird es wohl doch nicht sein.«
Ist es aber, dachte Douglas Jeffers.
»Aber ich will dir auch sagen, was ich daran nicht mag«, fuhr er fort. »Meist landet deine beste Arbeit im Papierkorb. Die Fotoredakteure suchen immer nach der besten Illustration für ein Ereignis. Selten ist es auch das beste Foto. Jeder Fotograf hat seine persönliche Galerie, seinen heimlichen Schatz an Bildern. Seine eigene Erinnerung an die Wahrheit.«
Wieder herrschte Schweigen. Douglas Jeffers wusste genau, was sein Bruder ihn als Nächstes fragen würde. Es wunderte ihn nur, dass er damit so lange gewartet hatte.
»Wieso kommst du jetzt?«, fragte Martin Jeffers. »Wieso dieser Besuch?«
»Ich unternehme eine kleine Reise. Ich würde gerne meinen Wohnungsschlüssel bei dir lassen. Geht das in Ordnung?«
»Ja, aber – wo willst du hin?«
»Mal hier, mal dort. Auf den Spuren der Vergangenheit. Alte Erinnerungen auffrischen.«
»Kannst du eine Weile bleiben? Wir könnten über die alten Zeiten reden.«
»Dir ist sicher nicht entfallen, dass unsere alten Zeiten nicht gar so rosig waren.«
Sein Bruder nickte.
»Sicher. Wo genau soll’s hingehen?«
Douglas Jeffers schwieg.
»Du willst oder kannst es nicht verraten?«
»Ich will es mal so sagen«, antwortete er nach einer Weile. »Es ist eine ›empfindsame Reise‹.« Er hauchte die Worte ironisch.
»Wenn ich dir die Route verrate, verliert es ein bisschen an Abenteuer.«
Martin Jeffers schien beunruhigt.
»Das ist mir zu hoch.«
»Wird dir schon noch klarer werden.« Douglas lachte schroff. Bei dem Laut flogen Köpfe herum. »Hör zu, ich wollte mich nur verabschieden. Ist das so mysteriös?«
»Nein, aber …«
Der Ältere unterbrach ihn. »Sieh’s mir einfach nach.«
»Selbstverständlich«, erwiderte der Jüngere prompt. Schweigend gingen die beiden Männer einen Anstaltsflur entlang. Das Licht, das durch eine Fensterreihe fiel, wurde von den weißen Wänden reflektiert und brachte ihrer beider Gestalten zum Leuchten. Sie erreichten den Haupteingang und blieben stehen. »Wann sehe ich dich wieder?«, fragte Martin.
»Wenn es so weit ist.«
»Du meldest dich ab und zu?«
»Auf meine Art.«
Douglas Jeffers sah, dass sein Bruder noch weitere Fragen stellen wollte, es sich aber anders überlegte und auf die Lippen biss.
»Vielleicht hörst du von mir«, sagte Douglas Jeffers.
Der Jüngere nickte.
»Vielleicht hörst du auch über mich.«
»Ist mir wieder zu hoch.«
Doch der Ältere schüttelte den Kopf und versetzte seinem Bruder einen gespielten Kinnhaken. Dann drehte er sich zum Ausgang um. Bevor er durch die Tür ging, wandte er sich noch einmal zurück, packte geübt seine Kamera aus der Schultertasche und hob sie in einer einzigen flüssigen Bewegung ans Auge. Er ging ein wenig in die Hocke, brachte seinen Bruder ins Bild und machte eine Reihe von Schnappschüssen. Douglas Jeffers ließ die Kamera sinken und winkte unbeschwert. Martin Jeffers versuchte zu lächeln und hob zaghaft die Hand zu einem angedeuteten Gruß.
So hatte er ihn verlassen. Bei der Erinnerung an den Ausdruck im Gesicht seines Bruders musste Douglas Jeffers lachen. »Mein Bruder«, sagte er laut, »sieht und sieht doch nicht, hört und hört doch nicht.«
Einen Moment lang wurde er traurig. Lebe wohl, Marty. Für immer lebe wohl. Wenn es so weit ist, nimm die Wohnungsschlüssel und begreife, wenn du kannst. Lebe wohl.
Er wurde plötzlich von einem Streifenwagen abgelenkt, der
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