Der Fotograf
frei: »Nein, ein Mann kann in Florida nicht alleine wandeln, wenn die Temperaturen steigen …«
Douglas Jeffers schmunzelte und blieb unter den dunklen Zweigen einer Eiche stehen. Er starrte auf ein zweistöckigesHolzhaus hinter einer grünen Rasenfläche, das etwa zwanzig Meter vom Bürgersteig zurückgesetzt war. Als zwei junge Mädchen aus der breiten Eingangstür traten, wandte er den Blick ab und sah über die Straße, bis sie vorbeigegangen waren. Sie lachten miteinander und hatten ihn offensichtlich nicht bemerkt. Er sah wieder zu dem weißen Haus hinüber und betrachtete die Fassade. Das Gebäude hatte viele Fenster sowie eine Seitentür. Den Rasen schmückte ein Zeichen mit zwei griechischen Buchstaben. Er las die Lettern zweimal und grinste innerlich.
Chi Omega.
Da wären wir also. Hier ist es passiert.
Im Geist hatte er das gewünschte Bild mit der Mühelosigkeit des Profis vor Augen.
Frontal, dachte er. Fang das Licht ein, wie es auf den linken vorderen Teil der Fassade trifft. Ein Schnappschuss fürs Sammelalbum, komm schon. Lass dich nur nicht erwischen. Gerne hätte er gewartet, bis jemand den Gehweg entlanggelaufen oder aus der Tür getreten wäre, so dass die Größenverhältnisse deutlich werden würden. Doch die Person hätte vielleicht etwas gemerkt, und das hätte Probleme nach sich ziehen können. Er richtete seine Position so aus, dass eine große Eiche am Rand der kurzgeschorenen Wiese einen vertikalen Maßstab lieferte. Er bewegte sich ein paar Schritte nach links, um einen leichten Schrägwinkel zu erzielen. Nachdem er sich rasch davon überzeugt hatte, dass der Bürgersteig in beide Richtungen menschenleer war, ging er auf ein Knie, als ob er sich den Schuh zubinden wollte, öffnete die Aktentasche und schnappte sich die Kamera. Belichtungszeit und Blende stellte er ein, bevor er den Apparat herausholte. Dann hob er ihn in einer einzigen flüssigen Bewegung ans Auge, richtete die Linse auf das Wohnheim und stellte gleichzeitig die Schärfe ein.
Dann drückte er ab. Der Motordrive sirrte, und er betätigte noch einmal den Auslöser. Und noch mal. Zufrieden steckte er die Kamera zurück in die Tasche, band sich den Schuh zu und stand auf. Er spähte in beide Richtungen, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtet hatte, und lief zügig die Straße weiter.
Zielstrebig schritt er ein Dutzend Häuserblocks ab und blieb erst stehen, als er unter einem Baum eine leere Bank entdeckte. Er setzte sich hin und merkte erst jetzt, dass er außer Atem war; das kam von der Aufregung, nicht von der körperlichen Anstrengung.
»Hast du das Bild im Kasten?«, fragte er sich. In seiner Phantasie hörte er die verzweifelte Stimme eines gehetzten Redakteurs.
»Hab ich doch immer«, antwortete er.
»Aber hast du dieses bestimmte Foto?«
»Hab ich dich je enttäuscht?«
»Bitte, sag mir klipp und klar, ob du das Foto hast.«
»Kinderspiel.«
Er lachte laut.
Was für ein seltsamer Tourist, dachte er. Während alle anderen nicht schnell genug nach Disney World oder zum Epcot Center kommen können oder weiter zu den Keys ziehen, besuchst du den Ort, an dem … an dem was? Er überlegte. Die meisten würden beim Anblick eines Fotos vom Chi-Omega-Haus auf dem Gelände der Florida State University daran denken, dass an diesem Ort zwei junge Frauen, die friedlich in ihren Betten geschlafen hatten, brutal ermordet worden waren, während eine dritte schwerverletzt überlebte. Einen Moment lang dachte Jeffers über die Phrase nach: brutal ermordet. Das war Journalistenjargon, eine Diktion, die nur entfernt etwas mit normaler Sprache zu tun hatte. Mordewaren immer brutal. Ebenso Prügeleien – und nicht nur, wenn man sie als »bestialisch« bezeichnete. Die Klischees der Zeitungswelt bildeten eine Art abstrakter Stenographie – die Leser konnten die Worte »brutal ermordet« auf sich wirken lassen, ohne erfahren zu müssen, dass der Mörder in seiner Rage einem der Mädchen die Brustwarze abgebissen und ein anderes wie ein prähistorischer Berserker mit dem Ast einer Eiche verprügelt hatte. Douglas Jeffers dachte an die jungen Frauen, die eben lachend aus dem Haus gekommen waren. Er fragte sich für einen Moment, ob sie und ihre Schlafgenossinnen nachts den Zimmerschlüssel zweimal umdrehten, ob sie ihre Erinnerungen in einem der hintersten Winkel ihres Bewusstseins verschlossen? Jeffers betrachtete die Fassade und dachte: Für diese Mädchen ist es ein Zuhause, ein Ort der Kameradschaft für
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