Der Fotograf
von einem, der seine Tage in dem Lärm und inmitten der zusammenhangslosen Schreie einer großen Nervenheilanstalt zubrachte?
»Wieso bleibst du hier?«, wollte er wissen.
Martin Jeffers zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Ich fühl mich hier wohl, ich werde gut bezahlt, und dann das Gefühl, ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein … eine Reihe von Faktoren.«
Buße, dachte Douglas Jeffers.
Doch er sprach es nicht aus.
Mein Bruder, dachte er, sieht zu viel. Und erkennt folglich wenig.
Als sein Bruder Kaffee trank, spreizte er wie eine gezierte Tante beim Fünf-Uhr-Tee den kleinen Finger von der Tasse ab. Sein Bruder hatte rastlose Hände. Unentwegt zupfte er an dem Namensschildchen herum, das er an seinem weißen Kittel trug, oder zog einen Kugelschreiber aus der Tasche, kaute an einem Ende herum und steckte ihn zurück. Dachte er über eine Frage nach, so fuhr er sich mit der Hand an den Hinterkopf und zwirbelte sich eine Strähne um den Finger. War die Strähne straff genug gespannt, kam die Antwort.
»Wie läuft’s denn so im Seelenklempnergeschäft? Sichere Zukunftsaussichten?«
»Eine Wachstumsindustrie«, erwiderte Martin Jeffers. »Zahlenmäßig jedenfalls. Es geht immer um die gleichen Geschichten, ein ums andere Mal, mit unterschiedlichen Akzenten,aber auch wenn jede ihre individuellen Züge hat, ist es im Grunde doch immer das Gleiche. Das macht es interessant. Manchmal beneide ich dich allerdings um die Abwechslung in deinem Job …«
Der ältere Bruder runzelte die Stirn.
»So viel anders ist das gar nicht«, sagte er. »In gewisser Weise geht es auch bei mir immer wieder um die gleichen Geschichten. Macht es wirklich einen solchen Unterschied, ob es um Jonestown oder Salvador oder um die Unruhen in Miami geht oder auch um das Barrio von Ost-Los Angeles? Das Leid ist überall dasselbe – beim Absturz einer 727 in New Orleans oder den Boatpeople auf den Philippinen. Schlag auf Schlag. Eine Tragödie pro Woche. Ein Desaster pro Tag. Letztlich dreht sich meine Arbeit immer wieder darum. Ich bin dem Unheil auf der Spur und versuche, einen Blick darauf zu werfen, bevor es weiterzieht.«
Er lächelte. Er fand die Beschreibung gut.
Natürlich schüttelte sein Bruder den Kopf.
»Wenn du es so beschreibst, klingt es wenig … reizvoll. Vor allem klingt es ermüdend.«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Hast du es nicht manchmal satt? Ich meine, ich bin auch schon mal sauer auf meine Patienten …«
»Nein, ich liebe die Jagd.«
Sein Bruder antwortete nicht.
Douglas Jeffers blickte geradeaus auf die Straße und sah, wie die Teerdecke unter der Hitze flirrte. Die Sonne wurde erbarmungslos von seiner Motorhaube reflektiert, so dass ihm das Licht in die Augen stach. Die Straße vor ihm war leer, und er ließ die Blicke schweifen, nahm die Farben und Formen des ländlichen Georgia in sich auf. Hundert Meter vom Haltestreifenentfernt ragten hohe Nadelbäume auf und warfen ihre kühlen Schatten auf die Erde. Er fühlte sich versucht, anzuhalten und sich unter einen Baum zu setzen. Es wäre angenehm, dachte er, etwas Einfaches und Kindliches zu tun. Dann schüttelte er den Kopf und starrte wieder geradeaus, während er versuchte, die Entfernung zwischen seinem Wagen und der kleinen dunklen Erhebung auf dem Highway vor ihm abzuschätzen. Eine Minute verging. Noch eine, und er fuhr hinter einem Kombi. Es war ein großes amerikanisches Fabrikat, randvoll mit Kindern, Koffern, Hund und Eltern. Auf dem Dach flatterte eine über dem Gepäck festgezurrte Plane im Wind. Douglas Jeffers’ Blick traf den eines kleinen Jungen, der mit dem Gesicht zu ihm auf dem hintersten Sitz angeschnallt saß, als sei er von der übrigen Familie geächtet. Der Junge hob zaghaft die Hand in seine Richtung, und Jeffers winkte lächelnd zurück. Dann scherte er auf die linke Fahrspur aus und überholte.
»Weißt du noch«, fragte ihn sein Bruder, »welche Bücher wir als Kinder gelesen haben?«
»Klar«, antwortete Douglas Jeffers.
»Der Zauberer von Oz. Robinson Crusoe. Die mutigen Kapitäne. Ivanhoe. Der kleine Hobbit und Der Herr der Ringe …
«
»Der Wind in den Weiden. The Wonder Clock. Die Schatzinsel …«
»
Peter Pan.
Denke einfach nur glückliche Gedanken …«
»… und schon kannst du fliegen.«
Sie lachten.
»Danach habe ich sie getauft«, sagte Martin Jeffers.
»Wen?«
»Die Männer in meinem Programm. Es ist ein Insider-Jokehier in der Anstalt. Die Männer in dem Sexualtäterprogramm. Wir
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