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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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ein kalter Fisch.« Das gefiel ihr. Kalter Fisch und Camus passten gut zusammen.
    Sie machte es sich wieder auf dem Stuhl bequem und las.
    Der Abend dämmerte, als Anne Hampton die Bibliothek verließ und sich langsam auf den Heimweg quer über den Campus machte. Im Westen hatte die untergehende Sonne den Himmel in ein unglaubliches Purpurrot getaucht, in dem auch die majestätischen Wolkenformationen über dem Golf von Mexiko glühten. Sie liebte es, um diese Zeit unterwegs zu sein. Das restliche Tageslicht hielt sich zäh und verlieh den Formen und Gestalten ein letztes Mal Kontur, bevor es sich in die Übermacht der Dunkelheit fügte.
    Sterbenszeit, dachte sie.
    Sie erinnerte sich daran, wie sich die letzten Splitter Sonnenlicht im Atemregler des Tauchers gespiegelt hatten, als er wieder im Loch in dem vereisten Teich ihres Großvaters erschien, die Gestalt ihres Bruders in den Armen. Von der leuchtenden Aluminiumvorrichtung dieser seltsamen Wasserkreatur war das Licht schimmernd auf die Züge des kleinen Jungen gefallen. Dann hatte sie ihn nicht mehr sehen können; Tommy war augenblicklich von Feuerwehrleuten und Rettungshelfern umringt gewesen, und das Einzige, was sie noch zu sehen bekam, war eine dunkle Masse, die hastig den Hang hinauf zu einem pulsierenden Rotlicht gefahren wurde. Sie entdeckte seine Schlittschuhe mit den zerschnittenen Schnürsenkeln, löste sich aus der verzweifelten Umarmung ihres Großvaters und holte sie.
    Natürlich, dachte sie, während sie weiterging, ist er nicht da gestorben; erst zwei Stunden später war er innerhalb des Piepens und Summens moderner medizinischer Geräte im klinischen Sinne tot. Die Intensivstation des Krankenhauses war ein Wunder an Licht; wohin ihr Blick auch fiel, fand sie immer neue Lampen, die in jeden Winkel leuchteten. Es war, als könnte man den Tod abwehren, indem man keine Dunkelheit zuließ.
    Sie hatte das Krankenblatt eines Arztes entdeckt. Darauf war ein Feld für den Zeitpunkt des Todeseintritts, und die Schwester hatte 18:42 geschrieben. Ihrer Meinung nach war das nicht korrekt. Wann starb Tommy tatsächlich? Er war schon tot, als ich hörte, wie sich unter meinen Füßen im Eis diese kleinen Spinnweben ausbreiteten. Er starb, als ich ihn rief und er mir in der Verwirrung und dem allzu großen Vertrauen eines kleinen Jungen entgegenwinkte. Er starb, als er ins Wasser tauchte. Sie wusste noch, wie undramatisch es ausgesehen hatte: Eben noch glitt er mit ausholenden Armbewegungen voran, und im nächsten Moment gähnte unter ihm dieses schwarze Loch, das ihn verschluckte. Sein Kopf tauchte nicht noch einmal auf. Sie erinnerte sich an das Brennen und die Taubheit in den Füßen, als sie die eigenen Schlittschuhe ausgezogen hatte und zum Haus ihres Großvaters rannte. Jeder Schritt im tiefen, tückischen Schnee war ihr kälter und mühsamer vorgekommen. Ein halbes Dutzend Mal war sie schluchzend hingefallen. Ich war noch ein kleines Mädchen, dachte sie, und da war er schon tot.
    Eine warme Brise erfasste ihre Bluse, und sie strich sich mit der Hand durchs Haar. Die Sonne war schon fast untergegangen; mit dem Licht wich auch die Zielstrebigkeit und Energie, und sie fühlte sich von der abendlichen Hitze abgeschlagen.
    Kein dünnes Eis in Florida, dachte sie.
    Niemals.
    Quer über den Campus kam sie an Trauben von Studenten vorbei, die zum Essen, zu Partys oder zum Lernen verabredet waren, und bog in die Raymond Street in Richtung ihrer Wohnung ein. Sie dachte an so profane Dinge wie ihren Vorrat an Joghurt, Cottagecheese sowie Obst in ihrem Kühlschrank und überlegte, ob sie sich einen Cheeseburger gönnen sollte, verwarf den Gedanken aber. Iss Nüsse und Beeren,mahnte sie sich im Spaß. Sie dachte an ihre Eltern, die beide zur Leibesfülle neigten. Sie hasste die Berge an Kartoffelbrei und Steaks, die sie bei ihren seltenen Besuchen auffuhren. Die müssen mich für appetitlos halten. Bin ich aber nicht. Ich bin nur wählerisch.
    Als sie unter den Quecksilberdampflampen Ecke Raymond und Bond Street weiterlief, staunte sie wie jedes Mal über das fluoreszierende Violett, in das ihre Haut und Kleider getaucht wurden. Für einen Augenblick sah sie sich als den Star in einem Horrorstreifen der fünfziger Jahre; nachdem sie zufällig einer Überdosis Strahlung ausgesetzt war, würde sie sich jetzt in … ja, was? … verwandeln. Das unglaubliche Mauerblümchen? Die phantastische Streberin? Die phänomenale Superstudentin? Plötzlich drang kreischendes

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