Der Fotograf
Gelächter aus einem offenen Fenster, in das sich die rhythmischen Akkorde einer voll aufgedrehten Stereoanlage mischten. Das Sommersemester, dachte sie, wird am wenigsten ernst genommen. Ihr war es das liebste Semester, vielleicht weil sie dann die anderen Studenten, die sich die eine oder andere nicht bestandene Prüfung leisteten, deutlich überragte.
Sie lief weiter und summte eine Melodie, die sie aus der dröhnenden Musik aufgeschnappt hatte, vor sich hin, bis sie in die Francis Street einbog. Sie war nur zwei Häuserblocks von ihrer Wohnung entfernt und sah den Mann erst, als sie buchstäblich über ihn stolperte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Können Sie mir helfen? Ich glaube, ich habe mich verfahren.«
Sie zuckte zusammen. Der Mann stand im Schatten neben der geöffneten Autotür.
»Hab ich Sie erschreckt?«, fragte er.
»Nein, nein, überhaupt nicht …«
»Falls doch, tut es mir leid …«
»Nein, keine Sorge. Ich war nur in Gedanken.«
»Sie waren in Gedanken?«
»Ja.«
»Das kenne ich«, seufzte er und kam auf sie zu. »Sie müssen an irgendetwas denken, und das erinnert Sie wieder an etwas anderes, und bevor Sie sich versehen, sind Sie vollkommen abwesend. Ich wollte Sie nicht stören.«
»Die Realität«, meinte sie, »stört immer.«
Er lachte.
Im schwachen Licht, das eine Lampe ein paar Häuser weiter spendete, schaute sie ihn sich genauer an. »Hab ich Sie heute nicht schon einmal gesehen? In der Bibliothek?«, fragte sie ihn. Er lächelte.
»Ja, ich war da, überfällige Lektüre …«
Sie sah, wie er ihr Gesicht eingehend musterte.
»Und Sie sind das Mädchen – Entschuldigung – die Frau mit den vielen Büchern? Ich dachte, wenn Sie die alle lesen müssen, kommen Sie nie da raus.«
Sie lächelte. »Ein paar. Nicht alle. Einige habe ich schon gelesen.«
»Sie müssen Anglistik im Hauptfach studieren.«
»Getroffen.«
»Eigentlich nicht schwer zu raten.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, pflichtete sie bei. »Komisch, der Gedanke ist mir auch schon gekommen.«
»Sehen Sie«, frotzelte er, »guter Riecher.«
Sie lächelte ihn an, und er grinste.
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Der Mann sah gut aus. Er war groß, gut gebaut, ein bisschen ungepflegt vielleicht. Liegt wohl nur an dem Baumwolljackett, dachte sie, damit wirkt jeder ein wenig angeknittert.
»Sind Sie Professor?«
»So etwas in der Art«, antwortete der Mann.
»Aber nicht von hier?«
»Nein, bin zum ersten Mal hier. Und wie’s aussieht, kann ich die Garden Street nicht finden. Ich habe überall gesucht …« Der Mann drehte sich um, zeigte zuerst in die eine Richtung und schaute dann in die andere. Einen Moment hatte sie das Gefühl, er suchte die Straße nach etwas ab, bevor er sich wieder zu ihr umwandte.
»Die Garden Street ist wirklich nicht schwer zu finden«, sagte sie. »Zwei Straßen weiter. An der Ecke links, dann die zweite rechts. Die kreuzt ein paar Straßen weiter die Garden Street. Ich weiß nicht mehr, wie sie heißt, aber es ist nicht mehr weit.«
»Ich hab eine kleine Karte, keine besonders gute. Würden Sie mir vielleicht zeigen, wo genau ich stehe?« Er lächelte. »An sich ist das eine philosophische Frage, aber diesmal reicht mir eine topographische Auskunft.«
Sie lachte. »Sicher«, antwortete sie.
Sie trat neben ihn, während er die Karte auf dem Autodach ausbreitete. Er griff in die Tasche, vermutlich um einen Stift herauszuholen, und sagte, mehr zu sich selbst: »Also, ich schätze, ich bin hier …« Und dann: »Verdammt! Nicht bewegen!«
»Was ist?«
»Mir ist mein Zimmerschlüssel runtergefallen.«
Er bückte sich. »Muss hier irgendwo sein …« Sie wollte ebenfalls in die Hocke gehen, um ihm suchen zu helfen, doch er winkte ab. »Sie zeigen mir am besten, wo ich bin.« Sie trat ans Auto und warf einen Blick auf die Karte. Einen Moment war sie verwirrt: Das war nicht Tallahassee, sondern Trenton in New Jersey.
»Das ist die falsche Karte …«
Weiter kam sie nicht.
Eine Sekunde lang blickte sie nach unten und erkannte, dass der Mann einen kleinen, rechtwinkligen Gegenstand in der Hand hielt.
»Gute Nacht, Miss Hampton«, sagte er.
Bevor sie flüchten konnte, packte er ihr Bein und stieß ihr das Ding in den Oberschenkel. Sie hörte ein Knacken. Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr ihren ganzen Körper. Es fühlte sich an, als hätte jemand in sie hineingegriffen, ihr Herz gepackt und brutal verdreht. Woher weiß er, wie ich heiße?, fragte sie sich. Dann
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