Der Fotograf
schon von weitem, dachte sie. Sie ordnete ihre Bücher in zwei Stapel: Conrad, Camus, Dostojewski und Melville auf der einen und ihr Notizbuch, Dickens nebst Twain auf der anderen Seite. Dunkelheit und Licht, dachte sie. Sie schüttelte den Kopf. Sie las nicht einmal die Hälfte dieser Bücher und verstand letztlich auch nicht, weshalb es so wichtig sein sollte, sie in ihrem Rucksack mitzuschleppen. Dennoch packte sie jeden Tag alle zusammen mit ihren Referaten ein, als könne das schiere Gewicht großer Worte auf ihrem Rücken sie zu neuen Einsichten beflügeln. Sie fragte sich, ob ihr wohl ihr Unterbewusstsein für die Bücher, die sie gelesen hatte, eine Art Bewertungssystem für Literatur diktierte: Bücher, die sie etwa einen Monat nach der Lektüre immer noch mit sich herumtrug, mussten wahre Klassiker sein. Drei Wochen sprachen für nachhaltige Bedeutung. Die zweiwöchigen überdauerten wohl nur wegen ihrer Thematik und nicht wegen ihrer künstlerischen Qualität. Eine Woche sagte etwas über eine große Figur in einem eher schwachen Buch. Unter einer Woche? Anwärter bestenfalls.
Manchmal fragte sie sich, ob Bücher lebendig waren, ob die Charaktere, Schauplätze und Handlungsstränge sich nicht neu arrangierten, sobald man den Deckel zuklappte, und nach einigem Hin und Her und Für und Wider ihre alte Stellung bezogen, sobald man sie das nächste Mal aufschlug. Das wärenur angemessen. Sie betrachtete Camus, der zuoberst auf ihrem dunklen Stapel lag. Vielleicht ruht sich Sisyphus im geschlossenen Zustand aus. Er setzt sich hin und atmet einmal durch, lehnt sich erschöpft an den Felsen und fragt sich, ob der Stein das nächste Mal auf dem Gipfel kurz ruckelt und dann liegen bleibt. Doch sobald er merkt, dass die Seiten aufgeschlagen werden, rappelt er sich auf, legt die Schulter unter den Brocken, spannt unter der kühlen Berührung die Muskeln, nimmt alle Kraft zusammen und schiebt, so fest er kann.
Es juckte ihr in den Fingern, das Buch zu packen und ganz schnell aufzuschlagen, um zu sehen, ob sie Sisyphus beim Entspannen erwischte.
Sie schmunzelte.
Sie sah auf, und für einen Moment traf sich ihr Blick mit dem eines Mannes auf der anderen Seite des Saals. Er hatte gelesen; sie konnte den Titel nicht erkennen. Er lächelte. Sie lächelte zurück. Ein junger Dozent, vermutete sie. Eine Weile schaute sie aus dem Fenster, dann wanderte ihr Blick zurück zu dem Mann. Er hatte sich in seine Lektüre vertieft.
Sie sah auf ihre Bücher. Sie betrachtete ihre Notizen. Sie schaute noch einmal aus dem Fenster. Sie linste zu dem Mann hinüber, doch der war verschwunden. Sie musste an die Klage ihrer Mutter denken: »Aber in Florida kennst du keine Menschenseele!«
Und ihre Antwort: »Brauche ich auch nicht.«
»Aber du wirst uns fehlen … und Florida ist so weit weg.«
»Ihr werdet mir genauso fehlen. Aber ich brauche ein bisschen Abstand.«
»Aber da ist es immer heiß.«
»Mutter.«
»Schon gut, wenn du es unbedingt willst.«
»Ja, es ist genau das, was ich will.«
Es war gar nicht immer heiß, musste sie denken. In diesem Punkt hatte sich ihre Mutter geirrt. Im Winter gab es unweigerlich Kälteeinbrüche, irgendeine eigensinnige Luftmasse aus Kanada, die Massachusetts aus den Augen verloren hatte, über der Landesmitte ins Trudeln geraten war und am südlichen Zipfel eine Bauchlandung machte. Dann war es unangenehm kalt, ohne die atemberaubende Schönheit und Stille der Berge von Colorado. Es war einfach nur kalt – man ballte die Finger zur Faust, und die eisigen Temperaturen nisteten sich in den kaum isolierten Häusern ein. Man zog Pullover und Mantel an und blickte in einen Himmel, der normalerweise nur von Strand und Sonne kündete. Schon komisch, dass sie an einem Januartag in Tallahassee schon weitaus mehr gefroren hatte als jemals zu Hause.
Sie sah in den Lichtstrahl, der auf ihren Tisch fiel. Zum Glück herrscht Sommerhitze, dachte sie. In diesem Moment kam ihr der seltsame Gedanke, dass sie in den letzten dreieinhalb Jahren trotz der Wärme, die schnelle Kontakte begünstigte, keine engen Freundschaften geschlossen hatte.
Pizza-Freunde, dachte sie. Strandfreunde. Was-hast-du-füreine-Note-Freunde. Hast-du-die-zusätzliche-Hausaufgabege macht-Freunde. Gehst-du-mit-mir-ins-Bett-Freunde.
Aber auch von dieser Sorte nicht allzu viele, gestand sie sich lachend ein.
Allerdings nicht aus Mangel an Bewerbern.
Sie zog ihren Block heran und kritzelte auf den Rand: »Mach dir nichts vor, du bist
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