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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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merkte sie, wie sich ihre Augen verdrehten und es dunkel um sie wurde. Das Knacken verstummte, und sie dachte: Das Eis ist eingebrochen.
    Dann tauchte sie in das Dunkel ein.

6.
    Als sie erwachte, war ihr erster Gedanke, dass sie sich den Tod anders vorgestellt hatte. Während sie langsam zu sich kam, wurde ihr klar, dass sie lebte. Dann spürte sie die Schmerzen; es fühlte sich an, als hätte man jeden Knochen und jeden Muskel in ihrem Körper bis zum Anschlag gestreckt und dann geschlagen oder verrenkt. Ihr Schädel pochte, und an der Stelle, an der sie der Schlag getroffen hatte, brannte ihr Schenkel. Sie stöhnte vorsichtig und versuchte, trotz der Schmerzen die Augen zu öffnen.
    Sie hörte seine Stimme aus der Nähe, doch irgendwie körperlos.
    »Versuch nicht, dich zu bewegen. Dich freizuwinden. Versuch einfach, dich zu entspannen.«
    Sie stöhnte wieder.
    Blinzelnd öffnete sie die Augen und ermahnte sich, nicht in Panik zu geraten, obwohl die Angst schnell die Oberhand über die Schmerzen gewann und vollkommen Besitz von ihr ergriff. Sie schnappte nach Luft und hyperventilierte. Wieder hörte sie die Stimme.
    »Versuch, ruhig zu bleiben. Ich weiß, das klingt schwer. Aber versuch es. Es ist wichtig. Sieh die Sache mal so: Wenn du ruhig bleibst, verlängerst du dein Leben. Wenn du dagegen in Panik gerätst … ich weiß, du bist kurz vor der Hysterie … also, das würde die Sache für uns beide nur erschweren. Hol tief Luft und verlier nicht die Fassung.«
    Sie tat, was er sagte.
    Sie schlug die Augen auf und versuchte, ihre Situation einzuschätzen.
    Das Zimmer war größtenteils dunkel, es brannte nur eine schwache Lampe in einer Ecke. Sie konnte den Mann nicht sehen, doch sie hörte seinen Atem. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht rühren konnte; sie lag auf einem Bett auf dem Rücken, die Hände mit Stricken zusammengebunden und am Kopfende verknotet, die Füße am anderen Ende festgezurrt. Die Fesseln boten ein wenig Bewegungsspielraum; sie veränderte ihre Lage, so gut es ging, und versuchte zu sehen, wo sie war.
    »Ah, Neugier. Gut. Das zeigt, dass du deinen Kopf gebrauchst.«
    Sie wurde schlagartig von zwei Emotionen überwältigt, die unmittelbar aufeinanderfolgten. Zuerst empfand sie den Sog einer tiefen Verzweiflung über ihr Ausgeliefertsein, und sie schluchzte einmal auf. Es war, als fiele sie aus großer Höheund stürzte immer rasanter ins Bodenlose. So schnell, wie das Gefühl gekommen war, wich es der Wut. Ich werde leben, dachte sie, ich werde nicht sterben.
    Als sie von diesem Gedanken ganz durchdrungen war, meldete sich die kalte, teilnahmslose Stimme des Mannes.
    »Es gibt viele Arten von Schmerzen auf der Welt. Ich bin mit den meisten vertraut. Fordere mich nicht heraus, mein Wissen anzuwenden.«
    Sie konnte das Schluchzen nicht unterdrücken. Sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, während sie sich fragte, was als Nächstes passieren würde. Doch es gelang ihr, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Nichts Gutes, sagte sie sich, doch das klang in ihren Ohren wie die Worte eines anderen – eines hilflosen Kindes.
    »Bitte. Bitte lassen Sie mich gehen. Ich tue, was Sie wollen. Lassen Sie mich einfach nur gehen.«
    Es herrschte Schweigen. Sie wusste, dass er ihre Bitte nicht in Erwägung zog.
    »Bitte«, versuchte sie es noch einmal. Sie hörte ihre eigene Stimme und wusste, wie nutzlos es war.
    »Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen«, flehte sie. Im Kopf ging sie die Möglichkeiten durch, doch sie weigerte sich, ihre Befürchtungen in Worte zu fassen. Sie hörte, wie der Mann langsam ausatmete. Es war ein schreckliches Geräusch.
    »Du bist Studentin«, sagte er. »Du wirst lernen müssen.«
    Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr Herz bliebe stehen.
    Zum ersten Mal konnte sie am Rand ihres Gesichtsfeldes einen Blick auf den Mann erhaschen. Sie reckte den Hals, um ihn zu sehen. Er hatte sich umgezogen und trug statt des Baumwolljacketts und der Khakihose jetzt dunkle Jeans und ein schwarzes Sporthemd. Das irritierte sie, und sie musstezweimal hinschauen, um sicher zu sein, dass es sich um denselben Mann handelte. Auch sein Gesicht schien verändert: Das lässige, offene Grinsen war verschwunden, seine Züge wirkten hart und kantig. Als sein ungerührter Blick sie traf, hatte sie das Gefühl, ohnmächtig in die Höhe gerissen zu werden. Sie schluckte schwer.
    »Wehr dich nicht dagegen«, empfahl er.
    Sie schwieg.
    »Wenn du dich wehrst, ziehst du die

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