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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Aufnahme mit Teleobjektiv aus Bodennähe, auf der die Männer von der Kripo über der Leiche knien und sie verdecken – außer einem auffällig dünnen, jungen Arm, der vom Rumpf heruntergerutscht war und behutsam von einem der Polizisten gehalten wurde. Das dritte fing eine Gruppe kichernder Teenager ein, die es in einer Mischung aus Angst und Neugier an den Rand des Fundorts gezogen hatte; sie brachen in Tränen aus, als das tote Mädchen aus dem Unterholz geborgen wurde. Das letzte Bild hatte ihm am besten gefallen. Er hatte sich den Mädchen vorsichtig genähert und ihnen mit Süßholzraspelei mühelos die Namen entlockt. Das Foto fing die Wirkung eines Verbrechens ein. Ein Mädchen riss unter dem Schock die Augen weit auf, während das neben ihm die Hände vors Gesicht schlug und über die furchterstarrten Finger hinweg auf die Leiche blickte. Ein drittes hatte den Mund weit geöffnet, während ein viertes Mädchen sich von dem Anblick abwendete. Der Bildredakteur fand diese Aufnahme am besten. Er brachte sie auf der Titelseite. »Dafür könnte eine Prämie rausspringen«, sagte er, doch Jeffers, immer noch erfüllt von Erregung, fand, dass seine wahre Prämie in der Dunkelkammer im Entwickler lag. Kaum hatte er den Ertrag dieses Tages vor Augen, schloss er sich ein, um ihn zu genießen.
    Er lächelte.
    Fast zwanzig Jahre danach bewahrte er diese Bilder immer noch auf.
    Er würde sich nie davon trennen.
    Er hörte Gelächter und drehte sich zu einer Gruppe Studenten um, die in seiner Nähe saß. Sie foppten einen von ihnen, der es sich gutmütig gefallen ließ. Jeffers konnte nur ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen, doch es ging offenbar um ein Referat, das der Student eingereicht hatte, ein unbedeutendes Ereignis aus dem Semesteralltag. Jeffers sah auf Plan und Vorlesungsverzeichnis und entschied, dass es Zeit war zu beginnen.
     
    Er eilte über den Campus; es war beinahe ein Uhr mittags, und er wollte noch rechtzeitig einen Platz in »Soziales Bewusstsein in der Literatur des 19. Jahrhunderts« ergattern. Er nahm die wenigen Stufen zum Vorlesungsgebäude mit zwei Schritten, schob die Sonnenbrille ins Haar hinauf, als er die ab gedunkelte Eingangshalle betrat, und schritt zielstrebig zum Vorlesungssaal 101, getragen von einem unablässigen Strom von Studenten, die allein oder in Grüppchen in den Saal hineingingen. Der Raum füllte sich rasch. Er fand einen Platz am Mittelgang, recht weit hinten. Er lächelte die junge Frau auf dem Nachbarstuhl an. Sie lächelte zurück, ohne ihr Gespräch mit einem Jungen neben sich zu unterbrechen. Er ließ den Blick schweifen; es gab Dutzende von Unterhaltun gen wie diejenige direkt neben ihm, gerade genug Lärm, um die Stille des Saales aufzulockern. Zu seiner Rechten entdeckte er einen Studenten, der Zeitung las, ein anderer blätterte durch ein Taschenbuch. Wieder andere legten Notizblöcke vor sich bereit. Er folgte ihrem Beispiel und versuchte gleichzeitig, aus dem Verhalten der Studenten etwas herauszulesen, eine unauffälligeBewegung, die ihm verriet, ob es sich bei dieser Person um einen geeigneten Kandidaten für ihn handelte.
    Er machte ein Mädchen aus, das allein auf der anderen Seite des Ganges saß, mehrere Sitzreihen vor ihm. Sie las Ambrose Bierce, den Kopf gebeugt über die Kurzgeschichtensammlung
In the Midst of Life
. Jeffers merkte, wie seine Augenbrauen sich hoben. Was für eine außergewöhnliche Kombination, dachte er: Der Autor, der womöglich seine Seele verkauft hat, und ein neunzehnjähriges Mädchen. Das ist interessant. Er nahm sich vor, es während des Seminars zu beobachten.
    Wenige Stühle entfernt saß eine weitere junge Frau. Sie skizzierte gelangweilt etwas auf einem Block. Jeffers konnte die geschickt gezeichneten Formen ausmachen, die sich ihrem Bleistift entwanden.
    Für einen Moment dachte er erregt dar über nach, welche faszinierenden Möglichkeiten eine Zeichnerin bieten würde. Er fragte sich, ob sie auch mit Worten skizzieren konnte. Er dachte: Jemand, der die Realität mit Kunst wiedererschafft – vielleicht eine gute Wahl. Er beschloss, sie ebenfalls im Auge zu behalten.
    Eine Minute nach eins betrat der Professor den Raum.
    Jeffers Blick verfinsterte sich. Der Mann war Mitte dreißig, genau wie er, und wortgewandt. Er begann den Unterricht mit einem Witz über David Copperfields Erzählung von seiner eigenen Geburt, als ob das eine Schrulle von Dickens gewesen wäre, eine Art altertümlicher Dummheit. Jeffers spürte den

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