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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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geschändet.
    Er hatte sie angezogen.
    Sie trug einen Slip, Hose, einen neuen BH und ein T-Shirt. Sie dachte: Ich bin wie ein Kind.
    Und sie weinte hemmungslos.
     
    Erst nach mehreren Minuten wurde ihr bewusst, dass der Mann auf einem Stuhl unmittelbar hinter ihrem Kopf saß. Als die Tränen langsam versiegten, betupfte er ihre Lippen mit einem feuchten Waschlappen. Dann fing er an, behutsam ihr Gesicht zu waschen. Währenddessen bekam sie ihre Ängste allmählich unter Kontrolle; sie konzentrierte sich auf die Empfindung des nassen Frottees auf der Haut und versuchte dabei festzustellen, ob sich irgendetwas taub anfühlte oder brannte und ihr zeigte, was er mit seiner Rasierklinge angerichtethatte. Doch sie spürte nichts und atmete innerlich auf. Sie merkte, wie sich ihre Muskeln entspannten, und kämpfte dagegen an, da sie jederzeit mit allem rechnen musste. Ihr wurde klar, dass ihr Körper nicht mehr ihrem Willen gehorchte, dass sie ihren Gliedern nicht mehr gebieten konnte, dass sie in der Angst und Anspannung der letzten Stunden einen Teil ihrer Selbstkontrolle aufgegeben hatte. In diesem Moment sprach er sie in sanftem Ton an. Sie hasste den Klang seiner Stimme, konnte sich der Wirkung aber dennoch nicht entziehen.
    »Gut«, sagte er. »Entspann dich. Atme langsam ein und aus.« Er verstummte.
    »Schließ die Augen und finde deine innere Kraft.«
    Das meint er nicht wirklich, dachte sie. In Wahrheit will er, dass ich sie verliere.
    »Hör auf deinen eigenen Herzschlag«, empfahl er ihr. »Du bist noch am Leben. Bis hierhin hast du es geschafft. Du machst Fortschritte.«
    Ihr gingen hundert Fragen auf einmal durch den Kopf, doch sie biss sich auf die Lippen und schwieg.
    »Sei einfach still.«
    Sie merkte, dass ihr Atem ruhiger, ihr Herzschlag langsamer geworden war.
    Sie versteckte sich hinter den geschlossenen Augen, als sie spürte, dass er nicht mehr neben ihr war. Stattdessen hörte sie ihn ein paar Meter weiter irgendetwas tun. Ebenso schnell war er wieder bei ihr.
    »So ist’s gut. Lass die Augen zu«, meinte er fast säuselnd.
    Er streichelte ihr sanft über die Stirn.
    »Glaubst du, dass ich dir wehtun würde?«, fragte er leise.
    »Nein«, erwiderte sie zögerlich. Ihre Augen blieben geschlossen.
    »Aber du irrst dich«, widersprach er im selben milden Ton.
    Als er zuschlug, schien hinter ihren geschlossenen Lidern Licht zu explodieren. Das Geräusch, mit dem seine Hand ihre Wange traf, war hart und entsetzlich, und sie schnappte in einer Mischung aus Schmerz und Verblüffung nach Luft. Sie riss die Augen auf und sah, wie er mit der erhobenen flachen Hand zu einem weiteren Schlag ausholte – der einzige Fixpunkt in einem Raum, in dem sich alles drehte.
    Sie kniff die Lider zu und versuchte, sich im Kissen unsichtbar zu machen.
    »Nein, nein, nein, nein, bitte nicht noch einmal«, flehte sie.
    Und es war still.
    In der Dunkelheit hinter den geschlossenen Lidern herrschte heller Aufruhr. Zum ersten Mal konnte sie nur noch an die Schmerzen denken, die sie hasste, die sie fürchtete, von denen sie erlöst werden wollte.
    Nach einer Weile sagte er: »Ich schulde dir noch einen Schlag. Denk dran.«
    Sie hörte, wie er vom Bett zurücktrat und sich irgendwo im undurchdringlichen Dunkel des kleinen Zimmers zu schaffen machte. Sie verharrte hinter ihren Lidern und fühlte sich vollkommen alleingelassen, den fortwährenden Verletzungen vollständig ausgeliefert.
     
    Sie konnte nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob sie wachte oder schlief. Die Grenzen zwischen Einbildung und Realität, zwischen Traum und angespannter Aufmerksamkeit waren verwischt. Einen Moment lang fragte sie sich, ob die Trennlinie zwischen Leben und Tod ebenso verschwamm.
    Der Gedanke machte ihr Angst, und sie versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen: Ich bin immer noch am Leben. Wäre es ihm darum gegangen, mich zu töten, hätte er es längst getan.
    Schon gleich zu Beginn. Er würde mich nicht am Leben lassen, mir weiter Schmerzen zufügen, nur um mich am Ende zu töten. Nein, er braucht mich, und das bedeutet Leben.
    Doch ebenso schnell kehrte die Hoffnungslosigkeit zurück, und sie gestand sich ein, dass sie sich vielleicht irrte. Vielleicht brauchte er sie nur als das, was sie ihm bereits war – ein gefesseltes Opfer. Vielleicht lief alles nur auf eine langsame Steigerung hinaus und am Höhepunkt war sie – ja was? Entbehrlich? Sie versuchte, den Gedanken wegzuschieben und in einen der hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu

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