Der Fotograf
weiteren Blutstriemen erkennen.Sie merkte, wie ihr schwindelig wurde, wie sich alles um sie drehte, und sie versuchte mit aller Macht bei Sinnen zu bleiben, zu schreien, irgendetwas zu tun. Plötzlich erschien er neben ihrem Gesicht, und sie sah die Klinge in seinen Fingern. Er rammte ihr die Hand über Mund und Nase, während er zischte:
»Soll ich dein Gesicht neu gestalten?«
Sie verlor das Bewusstsein.
Anne Hampton wachte langsam auf und dachte darüber nach, in Ruhe zu frühstücken, und zwar richtig üppig, mit Eiern, Toast und Schinken zu einer Tasse Kaffee, vielleicht noch etwas Süßes hinterher und dazu die gemächliche Lektüre der Zeitung. Etwas zu essen und schlechte Nachrichten, vermutete sie, würden ihr helfen, den grässlichen Traum abzuschütteln, der sie gequält hatte, eine Horrorvision aus Rasierklingen und Wahnsinn. Im Halbschlaf versuchte sie, sich vom Bett zu rollen, als sie die Fesseln an Händen und Füßen spürte. Einen Moment lang war sie verwirrt und glaubte, sich diesen aufdringlichen Alptraum aus den Augen reiben zu können, um den vertrauten Alltag zu begrüßen. Dann wurde die Spannung an ihren Handgelenken und Knöcheln real, und sie merkte, dass in Wahrheit die Gedanken an einen normalen Morgen das Traumgespinst waren. Als ihr das bewusst wurde, schluchzte sie auf.
Dann dachte sie an ihr Gesicht.
Unwillkürlich wollte sie sich mit der Hand an die Augen fassen, doch die Fesseln hielten sie zurück. Sie versuchte, ihre Hände zu sehen: Ich muss es fühlen!, schrie sie innerlich. Was hat er getan?
Eine unkontrollierbare Angst überflutete sie. Bin ich noch der Mensch, der ich war?, hallte es ihr durch den Kopf. Siereckte sich, um die Linie zu sehen, die er ihr mit der Klinge in den Oberarm geritzt hatte. Zu ihrem panischen Entsetzen konnte sich nichts fühlen, auch wenn sie sah, wo das Blut bräunlich verkrustet war. Keine Schmerzen, überhaupt kein Gefühl. Mein Gesicht! Was hat er mit meinem Gesicht gemacht? Sie versuchte, ihre Züge in Abschnitte einzuteilen: Sie verzog die Nase, und sie schien normal zu reagieren. Sie runzelte die Stirn und versuchte herauszufinden, ob ihre Muskeln irgendwo nicht reagierten, weil sie dort zerschnitten waren. Sie schob den Unterkiefer vor, so dass sich die Haut am Kinn und an der Unterlippe straffte. Sie war sich nicht sicher, denn ihre Unterlippe war noch geschwollen. Sie zwang ihren Mund zu einem Lächeln und dann zu einem breiten Grinsen, so dass sich das Fleisch an ihren Wangen spannte und zusammenzog. Sie hielt die groteske Maske, während sie von innen heraus nach Veränderungen suchte, wie ein Blinder, der einen vertrauten Raum betritt und feststellt, dass jemand die Möbel verrückt hat, deren Position er sich so sorgsam eingeprägt hatte.
Sie konnte nichts mit Sicherheit feststellen, und das machte ihr am meisten Angst. Sie schloss die Augen und betete stumm, dass sie nur dieses eine Mal, wenn sie sie wieder öffnete, ihr eigenes Zimmer mit ihren eigenen Sachen vorfand. Sie kniff die Lider zusammen und versuchte, sich ihr Schlafzimmer vorzustellen. Sie dachte an die Fotos, die auf ihrer Kommode standen: ihre Eltern, ihre Großeltern, ihr ertrunkener Bruder, der alte Hirtenhund ihrer Familie. Sie besaß ein antikes, handgeschnitztes Schmuckkästchen, das in der Mitte zwischen den Bildern stand und in dem sie ihre Ohrstecker, Ringe und Halsketten aufbewahrte – allesamt deutlich weniger wert als das Kästchen selbst. Sie versuchte, den Weihnachtsmorgen heraufzubeschwören, an dem sie es ausgepacktund ihre Eltern an sich gedrückt und geküsst hatte. Sie bemühte sich, die zarten verschnörkelten Schnitzereien auf dem Deckel vor sich zu sehen und strich im Geist mit den Fingerspitzen darüber.
Doch das alles schien so weit weg wie in einem Wunschtraum, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob irgendetwas von dem, was vor wenigen Stunden noch real zu sein schien, tatsächlich existierte.
Sie zitterte, doch nicht von der Kälte.
Wo ist er?, fragte sie sich.
Sie konnte seinen Atem nicht hören, doch das hatte nicht viel zu besagen; sie wusste, dass er in der Nähe war. Sie hob den Kopf, um in dem fahlen Licht ihre Umgebung auszumachen. Sie sah den Mann nicht, doch was sie erblickte, versetzte ihr einen Schock und stürzte sie in abgründige Verzweiflung.
Sie rammte den Kopf ins Kissen zurück und brach in so heftiges Schluchzen aus, dass ihr ganzer Körper bebte. In diesem Moment fühlte sie sich zum ersten Mal zutiefst
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