Der Fotograf
Handgelenke los; sie schob die Beine über den Bettrand und versuchte aufzustehen, doch im selben Moment wich ihr das Blut aus dem Kopf, und ihr wurde schwindelig. Sie hielt sich am Bettgestell fest.
»Lass dir Zeit. Fall nicht hin.«
Er war sitzengeblieben und rührte sich nicht.
Sie stand langsam auf und spürte, wie sich die Muskeln in ihrem ganzen Körper schmerzhaft zusammenzogen. Sie machte einen kleinen Schritt, dann den nächsten.
»Babyschritte«, meinte er. »Gut.«
Sie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, nahm dann die andere hinzu. An der Wand entlang tastete sie sich in den engen Flur, von dort aus ins Bad. Das Licht brannte in ihren Augen, und sie legte die Hand darüber. Ihr erster Gedanke galt dem Spiegel, und sie zwang sich, die Augen zu öffnen; ihr tat alles weh, da kam es auf ein bisschen zusätzlichen Schmerz nicht mehr an. Sie brachte das Gesicht nah an den Spiegel und untersuchte es auf Verletzungen. Die Lippe ist geschwollen, stellte sie fest, aber damit habe ich gerechnet. Auf der Stirn hatte sie einen Bluterguss, von dem sie nicht wusste, wie er da hingekommen war. Auch ihr Kinn war von seinen Schlägen rot gezeichnet. Doch ansonsten fehlte ihr nichts. Vor Dankbarkeit schluchzte sie auf. Als sie Wasser ins Becken laufen ließ und es sich ins Gesicht spritzte, um ein wenig von den Qualen abzuwaschen, zitterten ihre Hände. Sie hatte plötzlich großen Durst und fing an, sich das Wasser in den Mund zu schöpfen, bis ihr davon übel wurde. Bei der nächsten Woge beugte sie sich über die Toilette und erbrach sich heftig. Als sie fertig war, griff sie nach dem Waschbeckenrand und stützte sich ab.
Dann blickte sie auf und sah das Fenster.
So wie er gesagt hatte, stand es offen.
Sie gestattete sich einen kurzen Traum von Flucht, doch dann wurde ihr klar, dass er auf der anderen Seite warten würde. Sie wusste das mit absoluter Sicherheit. Dennoch trat sie ans Fenster und legte die Hand auf den Rahmen, als erhoffte siesich von der angenehm kühlen Luft der Sommernacht ein wenig Linderung. Sie blickte in das Dunkel hinaus. Er ist da irgendwo, dachte sie. Am äußersten Rand ihres Blickfeldes konnte sie seine Gestalt ausmachen. Sie sah, wie sich die Zweige der Bäume im Wind bewegten, doch sie wusste, dass er sie dort erwarten würde. Er würde mich umbringen, dachte sie, auch wenn sie das Wort »umbringen« vermied und stattdessen nur ein diffuses Dunkel aus Schmerz und Qual vor Augen hatte.
Plötzlich kam ihr der Gedanke: Ich brauche zu lange! Er wird böse auf mich sein! Hastig beugte sie sich noch einmal über das Becken und spritzte sich, so schnell sie konnte, noch eine Handvoll Wasser ins Gesicht und eine weitere in den Mund. Beeil dich! Tu einfach, was er will!
Sie hielt sich erneut an der Wand fest und stolperte in das Motelzimmer zurück.
»Ich warte«, sagte er.
Sie taumelte durch den Raum zum Bett. Ohne Zögern ließ sie sich wieder darauf nieder und streckte ihre Hände hoch, so dass er sie leicht festbinden konnte. Dasselbe tat sie mit den Beinen; im nächsten Moment spürte sie, wie die Stricke an den Knöcheln festgezurrt wurden.
»Besser?«, erkundigte er sich.
Sie nickte.
»Willst du schlafen, oder soll ich Fragen beantworten?«
Sie erfasste eine Erschöpfung, als sei sie nicht nur kurz ins Bad gegangen, sondern käme von einer unglaublich beschwerlichen Gipfelbesteigung zurück.
»Also schlafen«, hörte sie ihn noch feststellen.
Sie merkte, wie sich ihre Augen verdrehten.
Als sie erwachte, saß er am Fußende des Bettes.
»Wie lange hab ich …«, fing sie an, doch er unterbrach sie.
»Fünf Minuten. Fünf Stunden. Fünf Tage. Was macht das für einen Unterschied?«
Sie nickte. Da hatte er recht.
»Kann ich jetzt Fragen stellen?«
»Ja. Dies wäre ein guter Zeitpunkt.«
»Werden Sie mich töten?«, wollte sie wissen. Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, bereute sie es.
»Nur, wenn du mich dazu zwingst«, erwiderte er. »Siehst du, daran hat sich nichts geändert. Du bestimmst immer noch über dein Schicksal.«
Sie glaubte ihm nicht.
»Wieso tun Sie mir das alles an? Ich verstehe das nicht.«
»Ich habe eine Aufgabe für dich, und ich muss mir ganz sicher sein, dass du sie übernimmst. Ich muss dir vertrauen können. Mir sicher sein.«
»Ich tue alles, was Sie wollen. Sie müssen es nur sagen …«
»Nein«, antwortete er. »Danke für das großzügige Angebot, aber mir genügen keine verbalen Beteuerungen. Ich muss es ohne
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