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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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stillzustehen.
    »Hast du je in der Zeitung einen Artikel über ein Verbrechen gelesen, aus dem nicht richtig klar wurde, was nun wem zugestoßen ist? Es bleibt deiner Phantasie überlassen, die Euphemismen und Analogien zu sondieren, um zu begreifen, was tatsächlich vorgefallen ist? Kennst du das?«
    »Ja. Nein. Ich glaube schon. Bitte, was immer Sie wollen.«
    Er sah sie verärgert an.
    »Also, genau das ist dir passiert. Du bist in einen von diesen Zeitungsartikeln hineingeraten. Du bist eine Nachricht …« Er lachte. »Nur dass sie noch nicht ganz vollständig ist. Und wir müssen auch noch eine passende Schlagzeile finden. Verstehst du das? Verstehst du, was ich sage?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Es bedeutet, dass du eine Chance hast, am Leben zu bleiben.«
    Sie schluchzte. Sie wusste nicht, ob sie dankbar sein sollte.
    In dem Moment schlug er sie fest auf den Mund, und das Zimmer drehte sich um sie. Sie kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an. Sie schmeckte Blut am Gaumen, und ein Zahn schien zu wackeln.
    »Aber es bedeutet auch, dass es genauso gut anders kommen kann. Merk dir das.«
    Er wartete einen Moment und forschte in ihrem Gesicht nach der Wirkung seiner Worte.
    Sie wusste, dass sie die Angst nicht verbergen konnte. Ihre Lippe zitterte.
    »Ich mag das nicht«, stellte er in sachlichem Ton fest.
    Dann schlug er sie erneut. Seine Hand fuhr wie in Zeitlupe auf ihr Gesicht zu. Sie war erstaunt, dass sie den Schmerz spürte. Sie entspannte sich und fragte sich zugleich, wie sie dazu fähig war, und diesmal überließ sie sich der Qual und fiel in Ohnmacht.
     
    Als sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte, war sie auf der Hut und biss die Zähne zusammen, um keinen Laut von sich zu geben. Sie fühlte, wie geschwollen ihre Lippe war, und schmeckte getrocknetes Blut. Sie war immer noch gefesselt, und die Schmerzen in ihren Gelenken und Muskeln kehrten zurück – zwar weniger heftig, doch mit einer pochenden Nachhaltigkeit, die sie fürchtete.
    Sie konnte den Mann nicht hören, doch sie wusste, dass er nicht weit war.
    Sie atmete langsam ein und kämpfte gegen die Schmerzen an, während sie sich zwang, ihre Umgebung abzuschätzen. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ sie den Blick über die Decke schweifen. Dort hing eine einzige nackte Birne, doch die war aus. Sie ahnte, dass sie in einem kleinen Zimmer lag, und sie tippte auf ein kleines Apartment oder Zimmer in einem Motel. Wenn sie den Kopf ein wenig nach links und rechts bewegte, konnte sie ein paar billige Möbel und ein Fenster mit heruntergezogener Jalousie erkennen. Etwas außerhalb ihres Gesichtskreises schien ein kleiner Flur zu sein, und sie vermutete, dass dort der Eingang lag. Sie konnte nicht sehen, woher das schwache Licht im Zimmer kam, ging jedoch davon aus, dass nebenan ein Badezimmer war, in dem er die Lampe angelassen hatte. Sie wusste nicht, wie spät es war oder wie lange ihre Ohnmacht gedauert hatte.
    Mit Entsetzen stellte sie fest, dass sie sich weder an das Datum noch an den Wochentag erinnerte, und sie versuchte, es sichins Gedächtnis zu rufen. Ich habe an einem Dienstag in der Bibliothek gesessen. Es ist Juli. Es ist Ende Juli. Die letzte Woche. Das Semester dauert nur noch drei Wochen.
    Oder vier? Sie biss sich auf die Lippe und merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Erinnere dich!, schrie sie sich innerlich an. Sie spürte, wie ihre Gedanken verzweifelt rasten, weil sie nicht sagen konnte, welcher Tag es war.
    Wie lange bin ich schon hier?, fragte sie sich weinend.
    Und als ob er ihren Gedanken gehört hätte, antwortete der Mann: »Von jetzt ab bestimme ich über die Zeit.«
    In seiner Stimme lag eine dunkle Endgültigkeit, und sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Zuerst kam ihr ein Schluchzer über die Lippen, dann ein zweiter, bis sich ihr ganzer Körper vor Verzweiflung schüttelte.
    Er ließ sie gewähren. Sie wusste nicht, wie lange sie geweint hatte, ob Minuten oder Stunden. Als sie ruhiger wurde, hörte sie einen Seufzer, und er sagte: »Gut. Jetzt können wir weitermachen.«
    Reflexartig straffte sie den Körper.
    Sie hörte, wie es in einer Tasche, in der er wühlte, klirrte.
    »Was haben Sie vor?«, fragte sie.
    Augenblicklich war er neben ihr und flüsterte ihr böse zu: »Keine Fragen.«
    Er schlug sie.
    »Keine Fragen!«
    Er schlug sie wieder.
    »Keine Fragen!«
    Er schlug sie ein drittes Mal.
    Es ging so schnell, dass sie Schmerz und Verblüffung nicht unterscheiden konnte. »Nein, nein, nein, tut mir

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