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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Männer zitternd vor ihm standen. Anlegen, wies er an, während die Männer hastig ihre letzten Gebete murmelten und auf ihre Henker starrten. Der Degen des Kommandeurs erhob sich, doch bevor er heruntersauste und der Feuerbefehl ertönte, kam ein Reiter herangeprescht und schwenkte wie wild ein Papier. Es war die Begnadigung des Zaren. Einige Männer fielen vor Dankbarkeit auf die Knie. Andere stammelten wirre Worte in geistiger Umnachtung, weil ihnen der kurze Moment im Angesicht des Todes den Verstand geraubt hatte. Einige starben auf der Stelle, da ihr Herz zu schwach war. Alle anderen landeten in den Lagern. Wie überlebte man wohl im Lager?«
    Sie brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass ihr eine Frage gestellt worden war. Im Geist saß sie wieder in dem kleinen Raum, in dem sie und neun andere Studenten zusammengekommen waren, um über die Romane des Russen zu diskutieren. In der Erinnerung sah sie, wie sich die Sonne in der glatten grünen Tafel spiegelte.
    »Durch Gehorsam«, antwortete sie.
    »Gut. Glaubst du, dasselbe gilt hier?«
    Sie nickte.
    Er überlegte und sah sie eindringlich an.
    »Sag mir, was von allem, das dir passiert ist, am schlimmsten ist. Was macht dir am meisten Angst? Was tut am meisten weh?«
    Er saß am Bettrand und wartete auf ihre Antwort.
    In ihr braute sich eine Woge aus Gefühlen und Erinnerungen zusammen, und sie hätte an der Frage verzweifeln können. Sie dachte an den Revolver, mit dem er auf ihren Unterleib gezielthatte, und kämpfte gegen den bitteren Geschmack der Galle auf der Zunge an; sie erinnerte sich an die Brutalität des Elektroschockers; an die Rasierklinge an ihrem Gesicht; an das Gefühl zu ertrinken, als er ihr das Handtuch auf Mund und Nase gedrückt hatte; an die willkürlichen, unberechenbaren Schläge. Alles tat weh, schrie es in ihr. Alles machte entsetzliche Angst. Und dann fragte sie sich: Wieso fragt er? Aus Anteilnahme? Was soll das für eine Anteilnahme sein? Sie konnte sich nicht dazu bringen, gründlich und logisch zu denken; die Vorstellung, dass sie irgendwie Macht haben könnte, dass sie in der Lage sein sollte, einen gewissen Einfluss auf die Situation auszuüben, bestürzte sie. Und dann erfasste sie ein neuer unerträglicher Gedanke: Vielleicht will er es wissen, damit er die anderen Methoden ausschließen kann, damit nur noch die schlimmste bleibt. Mein Gott, dachte sie, was soll ich ihm sagen?
    »Nun komm schon«, hakte er nach, und es lag eine gewisse Ungeduld in seiner Stimme. »Was ist das Schlimmste?«
    Sie schwieg. Bitte, flehte sie sich an.
    »Ich höre?«
    »Die Rasierklinge.« Sie weinte los. Die Tränen liefen ihr ungehemmt die Wangen hinunter.
    »Die Rasierklinge?«, wiederholte er. Während sie weiterschluchzte, stand er auf. Für einen Moment konnte sie ihn nicht mehr sehen, dann kehrte er zurück und hielt die Klinge in der Hand. »Diese Rasierklinge?«, fragte er.
    »Ja, ja, ja, bitte, Gott, bitte.«
    Er hielt sie dichter an ihr Gesicht.
    »Das setzt dir am meisten zu?«
    »Bitte, bitte, bitte …«
    Er fuhr mit der Klinge dicht über ihre Nase.
    »Das ist zu viel, wie?«
    Sie schluchzte nur noch und konnte vor Angst nicht mehr denken.
    »In Ordnung«, meinte er einfach.
    Sie sah ihn durch den Tränenfilm an.
    »In Ordnung. Ich benutze die Rasierklinge nicht mehr.« Er schwieg. »Außer, um mich zu rasieren.« Er lachte. Er sah sie an und sagte: »Du kannst lächeln, das war ein Witz.«
    Sie weinte weiter. Er sagte nichts, während sie Minute um Minute schluchzte. Nachdem sie sich schließlich ein wenig beruhigt hatte, blickte er sie freundlich an und fragte: »Möchtest du ins Bad?«
    Das schlichte Angebot verblüffte sie.
    Sie nickte.
    »In Ordnung.« Rasch löste er ihre Fesseln. Bevor er jedoch ihre Handgelenke losband, sah er sie durchdringend an. »Muss ich die Regeln noch einmal erklären, oder denkst du, dass du sie verstanden hast?«
    Wieder war sie verwirrt. Sie hatte keine Ahnung, was er meinte.
    »Nein«, überlegte er laut. »Ich glaube, du weißt dich zu benehmen. Das Bad ist gleich hier um die Ecke. Natürlich gibt es auch ein kleines Fenster, das dich vor die Wahl stellt. Für den einen oder anderen bedeutet ein geöffnetes Fenster die Freiheit. Aber verlass dich darauf, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt nur
eine
Möglichkeit, von mir freizukommen, und zwar, wenn ich sage, du bist frei. Das solltest du mittlerweile begriffen haben. Trotzdem, das Fenster ist da. Die Wahl liegt also bei dir.«
    Er band ihre

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