Der Fotograf
er. »Ich mag deinen alten nicht. Er stammt aus deiner Vergangenheit, und du brauchst etwas für die Gegenwart und die Zukunft.«
Sie nickte. Sie war selbst überrascht, dass sie das für eine vernünftige Überlegung hielt.
Er deutete auf den Wagen, und sie setzte sich auf ihren Platz.
»Anschnallen«, wies er sie an.
Sie gehorchte.
»Du wirst Biographin«, sagte er.
»Biographin?«
»Ja. Im Handschuhfach findest du Stenoblöcke und Stifte. Die sind für dich. Sorge dafür, dass du immer genug zur Hand hast, um aufzuschreiben, was ich sage.«
»Ich verstehe nicht ganz«, zögerte sie.
»Ich erklär es dir unterwegs.«
Er sah zu ihr hinunter. Dann lächelte er.
»Von jetzt an bist du Boswell«, meinte er.
»Boswell?«
»Richtig.« Er lächelte. »Ein kleiner literarischer Scherz, wenn du so willst.«
Er schloss ihre Tür, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Sie schaute zu, wie er seinen eigenen Gurt umlegte und den Anlasser betätigte. »Versuch mal deinen Türgriff«, bat er. Sie legte die Hand darauf und zog. Der Griff bewegte sich, die Tür dagegen nicht. »Das gehört zu den Vorzügen des Chevrolet Camaro: Die Schnappvorrichtungen sind leicht auszuhebeln. Du wirst also jedes Mal, wenn wir halten, warten, bis ich zu dir herumkomme und dich rauslasse, klar?«
Sie nickte.
»Das hab ich in Cleveland gelernt, als ich Fotos von dem Prozess gegen einen Footballspieler machte – ein Kerl, der gerne Stricherinnen ins Auto holte, um sich vor ihnen zu entblößen. Wenn sie versuchten, auszusteigen, Fehlanzeige. Das gab ihm den eigentlichen Kick.«
Douglas Jeffers blickte sie an.
»Siehst du, so etwas musst du aufschreiben.«
Er wies mit dem Kopf auf das Handschuhfach.
Eine Sekunde lang hatte sie Panik und griff hastig nach vorn. Er hinderte sie daran. »Schon gut. Das war nur ein Beispiel.« Er sah sie an.
»Weißt du, Boswell schreibt alles auf.«
Sie nickte.
»Gut«, sagte er. »Boswell.«
Dann legte er den Gang ein, gab Gas und fuhr langsam in die Dunkelheit über dem nächtlichen Highway.
Sie drehte sich um und blickte noch einmal zu den Sternen. Unvermutet erinnerte sie sich an einen Kinderreim und sprach ihn stumm vor sich hin: Sternchen, Sternchen, hell und klar, ich wünsch mir was, ich wünsch es mir sehr, bitte mach es wahr.
Am Leben bleiben, dachte sie.
4. KAPITEL
Eine ganz normale Sitzung der Lost Boys
7.
Obszönitäten flogen durch die Luft, doch sie prallten an ihm ab. Immer noch hatte er das Bild seines Bruders vor Augen, wie er ihm in der Anstaltskantine gegenübersaß und ein unbekümmertes Grinsen auflegte, das einem Teenager angestanden hätte, im Gesicht eines erwachsenen Mannes hingegen etwas Beunruhigendes hatte. Er versuchte, sich seine Gedanken in jener Situation ins Gedächtnis zu rufen, blieb jedoch bei dem Moment hängen, als er in einer albernen Gefühlsaufwallung gesagt hatte: »Weißt du, ich wünschte, wir hätten uns früher nähergestanden …«
Und die unbarmherzige, kryptische Antwort: »Oh, wir stehen uns näher, als du denkst. Viel näher.«
Was glaube ich denn, wie nahe wir uns stehen oder wie ähnlich wir uns sind?, fragte sich Martin Jeffers.
Zu seiner Rechten hatten zwei der Männer die Stimme erhoben und waren inhaltlich wie auch im Ton kurz davor zu explodieren. Jeffers drehte sich um und behielt die Männer im Auge, während er mit aller gebotenen Vorsicht versuchte, herauszufinden, worum es bei der Auseinandersetzung ging.
Er wusste zwar, dass Konfrontation ein unverzichtbarer Therapiebestandteil war; andererseits vergaß er nicht, dass er es hier mit gewalttätigen Menschen zu tun hatte und dass es zu seinen Aufgaben gehörte, zu verhindern, dass sie mit der Brutalität aufeinander losgingen, zu der sie fähig waren. Ihm kam die seltsame Idee, dass sie sich wie eine keifende Schar alter Frauen verhielten, die sich weniger über einen Gedanken oder einen realen Konflikt in die Haare gerieten, als vielmehr aus der schieren Lust am Streit. Er beschloss einzugreifen.
»Ich glaube, Sie sagen nicht, was Sie wirklich meinen.«
Diese Bemerkung gehörte zu seinem Standardrepertoire. Er wusste, dass seine ausweichenden Stellungnahmen die Männer frustrierten; die meisten von ihnen waren Menschen mit sehr konkreten Vorstellungen und Gefühlen. Es ging ihm darum, dass sie lernten, abstrakter zu denken und sich von ihren Impulsen zu distanzieren. Verstanden sie erst mal, sich in andere einzufühlen, konnte man sie behandeln.
Er
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