Der Fotograf
Kreises saß und es besonders genoss, Bryan und Senderling aufs Korn zu nehmen. »Und ihr wisst ja, meine Süßen, wie sie Jungs von eurer Sorte da lieben …«
Die drei Männer funkelten sich gegenseitig an und wandten sich dann an Jeffers. Er erkannte, dass eine Reaktion von ihm erwartet wurde. Er wünschte, er hätte besser zugehört.
»Sie kennen alle unsere Regeln.«
Mürrisches Schweigen schlug ihm entgegen.
Die erste Lektion der psychiatrischen Assistenzzeit: Im Falle eines Zweifels sag nichts.
Und so verfiel die Runde in nachsichtige Stille. Jeffers versuchte, mit jedem Mann Blickkontakt aufzunehmen. Einige schauten zurück, andere wandten sich ab. Einige schienen gelangweilt und abgelenkt, mit den Gedanken woanders, andere lagen auf der Lauer, waren auf dem Sprung. Eine Weile dachte Jeffers über das Mysterium der Gruppendynamik nach: Diese Gruppe bestand aus zwölf Lost Boys, von denen jeder einerseits ein eigenes, unverwechselbares Profil mitbrachte, andererseits aber auch die typischen Klischees erfüllte. Ihm kam plötzlich der verblüffende Gedanke, dass diese Männer alle an derselben Krankheit litten: Irgendwann einmal war jeder von ihnen in seiner Kindheit ein »Lost Boy« gewesen – im Stich gelassen, traf die Sache wohl am besten. Die steinigen Untiefen der Kindheit, dachte er. Die Dunkelheit und Grausamkeit der Jugend. Die meisten Menschen wachsen heran und lassen sie hinter sich, sie lernen, sich anzupassen und ihre Narben innerlich zu tragen. Die Lost Boys nicht.
Und wie sie sich an der Erwachsenenwelt gerächt hatten, war wirklich erbärmlich.
Zwölf Männer, die es zusammen auf beinahe hundert gemeldeteStraftaten brachten, während die Dunkelziffer leicht das Doppelte betragen mochte: ungelöste, nicht gemeldete oder nie mandem nachzuweisende Fälle von Vandalismus und Kleindiebstahl bis hin zu ein oder zwei Vergewaltigungen oder auch einem halben Dutzend, wenn nicht sogar zehn, zwanzig oder mehr. Außerdem befanden sich unter den Lost Boys drei Mörder, Männer, die Menschenleben zerstört hatten, die offenbar in dem eigentümlichen Abwägungssystem des Strafrechts als weniger wertvoll galten und somit ein niedrigeres Strafmaß nach sich zogen, auch wenn Jeffers sich oft damit schwertat, zwischen Totschlag und vorsätzlichem Mord zu unterscheiden, besonders aus Sicht der Leiche.
Das Schweigen im Aufenthaltsraum hielt an, und Jeffers dachte erneut an seinen Bruder. Das hatte Doug ähnlich gesehen. Kurz anrufen und im nächsten Moment auf der Matte stehen. Es konnten drei Jahre zwischen zwei Besuchen vergehen, und Monate, bis er sich auch nur telefonisch meldete und dann so tat, als wäre nichts. Seine Wohnungsschlüssel mit den charakteristisch unklaren Instruktionen hinterlassen. Typisch.
Was trieb er eigentlich derzeit?, fragte sich Jeffers. Er kehrte im Geist noch einmal zu ihrem Treffen zurück. Sein erster Gedanke war allerdings: Was war bei Doug schon typisch? Mit leichtem Unbehagen registrierte er, dass er keine Antwort hatte.
Er sah seinen Bruder vor seinem geistigen Auge, die Sonne in seinem hellbraunen Haar. Doug, dachte er, war dieser attraktive, lässige Mensch, dessen gutes Aussehen weniger mit besonderen physischen Vorzügen zu tun hatte als vielmehr mit seiner unbekümmerten Einstellung zum Leben. Einen Augenblick lang beneidete er seinen Bruder um diese entspannte Lebenssicht, die er sich in seinem Beruf als Fotograf leisten konnte, während ihm, Martin, die unausgesprochene Förmlichkeitseiner eigenen Zunft zuwider war. Ich bin steif, dachte er. Er beneidete seinen Bruder um sein Leben im Freien, das ihn mit Dingen konfrontierte, die tatsächlich passierten, statt mit Dingen, über die nur geredet wurde. Manchmal kann ich die Beständigkeit kleiner Räume und verschlossener Türen, suggestiver Bemerkungen und Kommentare sowie stummer, beredter Blicke, die meinen Beruf ausmachen, nicht leiden, dachte er.
Dann schüttelte er innerlich den Kopf und sagte sich: Natürlich kannst du sie leiden, du liebst sie geradezu.
Dennoch spielte er einen Moment mit dem Gedanken, wie das Leben wohl durch eine Linse aussah.
»Wir stehen uns näher, als du denkst.«
Ist es denn so viel anders?, fragte er sich plötzlich. Sicher, er sieht ein Ereignis in der Unmittelbarkeit des Augenblicks. Ich höre die Erzählung im Nachhinein.
Mit Betroffenheit wurde ihm bewusst, dass er sich nicht an die erste Kamera seines Bruders erinnern konnte. Es kam ihm so vor, als hätte Doug von der
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