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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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erinnerte sich an einen Professor an der medizinischen Fakultät, der vor seinem Seminar stand und sagte: »Denken Sie an die Erfahrung einer Krankheit. Führen Sie sich vor Augen, wie sie unsere Sinne, Gefühle und Emotionen beherrscht. Und dann denken Sie daran: Auch wenn Sie Ihrer Meinung nach ein noch so guter Arzt sind, sind Sie nur so gut wie Ihre letzte richtige Diagnose.« Zehn Jahre später hätte Martin Jeffers dem hinzugefügt: Und Therapie.
    Jeffers betrachtete die streitenden Männer.
    »Leck mich, Jeffers«, knurrte der erste und machte eine wegwerfende Handbewegung.
    »Leck dich doch selbst«, warf der zweite ein. »Und genieß es besser, denn was anderes kriegst du für lange Zeit nicht vor die Zunge …«
    »Musst du gerade sagen.«
    »Genau, guck mal, wer das sagt, du Knirps.«
    »Donnerwetter, da schlottere ich aber vor Angst. Schau mal, meine Hände. Wie Zittergras.«
    Jeffers beobachtete die beiden Kampfhähne genau. Er versuchte einzuschätzen, ob sie jeden Moment von ihren Stühlen aufspringen könnten. Dieser konkrete Streit machte ihm wenig Sorgen: Bryan und Senderling gerieten oft aneinander. Solange sie sich Beleidigungen an den Kopf warfen, würden sie es beim verbalen Schlagabtausch belassen. Unter anderen Umständen, vermutete Jeffers, würden die beiden wohl als Freunde durchgehen. Was ihn tatsächlich alarmierte, war Schweigen. Manchmal verstummten sie. Dabei waren sie nicht um Worte verlegen oder gelangweilt oder warteten darauf, dass jemand anders etwas sagte. Es war vielmehr eine Stille der geballten Wut. Dann verengten sich ihre Augen und fixierten den Gegner oder die Muskeln spannten sich kaum merklich. Jeffers musste daran denken, dass er einen Großteil seiner Zeit im Aufenthaltsraum damit verbrachte, auf weiße Knöchel zu achten, wenn sich Finger um Stuhllehnen krampften. Einmal hatten sie einen Mann in der Gruppe gehabt, erinnerte sich Jeffers, der immer auf der Stuhlkante saß, die Beine unter sich verschränkt. Als der Mann eines Morgens die Stellung seiner Beine wechselte, war Jeffers bereits aufgesprungen, um die Explosion abzufangen, zu der es Sekunden später kam. Jeffers wurde sich bewusst, dass er im Lauf der Monate jeden Mann in der Gruppe nicht nur als eine Ansammlung von Erinnerungen und Erfahrungen kennenlernte, sondern auch die Körperhaltung studierte. Dass drüben in seinem Büro zwölf Bände voller Notizen aus diesen Sitzungen standen, war nicht weiter verwunderlich – so leicht qualifizierte man sich nicht für die Lost Boys. Dazu bedurfte es zweierlei: Verdorbenheit und das Pech, erwischt zu werden.
    »Fick dich!«
    »Fick dich selbst!«
    Obszönitäten waren die Währung, die in der Gruppe getauscht wurde wie Kupfergeld. Er überlegte, wie oft er wohl am Tag »Leck mich« oder »Fick dich« hörte. Hundertmal? Das reichte bestimmt nicht. Dann vielleicht tausendmal. Für ihn hatten die Worte jeden konkreten körperlichen Bezug verloren. Sie dienten den Männern eher als eine Art Inter-punktion. Manche Menschen benutzten »Leck mich« oder »Fick dich« wie andere Kommas. Er dachte an die berühmte Lenny-Bruce-Nummer, die damit begann, dass der Comedian ins Publikum starrte und fragte: »Ich wüsste gerne, wie viele Nigger heute Abend unter uns sind«, bevor er gegen Itaker, Kanaken, Polacken, Schlitzaugen, Krauts und weiß der Himmel was noch die Beleidigungen so breit streute, dass sie harmlos und bedeutungslos wurden. Jeffers vermutete, dass sich im Aufenthaltsraum etwas Vergleichbares vollzog. So wie die Männer mit diesen Schimpfwörtern um sich warfen, waren sie neutralisiert. Ganz gewiss hatte das wenig mit den Verbrechen zu tun, derer sie sich schuldig bekannt hatten, auch wenn jeder von ihnen ein Sexualstraftäter war.
    »Ach, geh doch zur Hölle«, rief einer der Männer. Es war Bryan. Er wandte sich an Jeffers. »He, Doc, können Sie diesem Hurensohn nicht mal klarmachen, wo’s langgeht? Der hat immer noch nicht kapiert, wieso er hier ist.«
    »Hör zu, Arschloch«, antwortete Senderling, »ich weiß, wieso wir hier sind. Ich weiß genauso gut, dass wir so schnell nirgendwo anders hinkommen. Und wenn doch, dann nur in den Knast, um verdammt viel Zeit abzusitzen.«
    Ein weiterer Mann mischte sich ein, indem er zuerst einen Kussmund machte und dann einen so lauten Schmatzlaut von sich gab, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderenerregte. Jeffers drehte den Kopf in seine Richtung und sah, dass es Steele war, der auf der anderen Seite des

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