Der Fotograf
Grundschule an schon immer eine besessen. Er überlegte, wo und wie Doug wohl den ersten Fotoapparat bekommen hatte; gewiss nicht von ihren Eltern.
Das Einzige, was sie großzügig ausgeteilt hatten, war Elend, dachte Martin Jeffers.
Darin waren sich die beiden Brüder stets einig gewesen.
Er musste plötzlich an die Nacht denken, in der sie zu ihren Pflegeeltern gebracht wurden, und augenblicklich wunderte er sich, wie lange er nicht mehr daran gedacht hatte. Er hörte den heftigen Regen, der gegen die Fenster der Polizeistation prasselte, und das Klappern der Fenster im Sturm. Das Gebäude hatte im Dunkeln gelegen, doch die harte Holzbank, auf der er saß und sich an die Hand seines Bruders klammerte,erstrahlte im grellen, künstlichen Licht. Es war spätnachts gewesen, und sie waren noch sehr klein. Dass sie lange aufblieben, hatte nichts mit der Vorfreude auf Heiligabend zu tun. Sie waren vielmehr vor Angst wie von Sinnen und sich vollkommen im Klaren darüber, dass sie in ein Mysterium der Erwachsenenwelt hineingetappt waren, als sie längst hätten schlafen sollen. Sie hatten etwas gesehen, das für ihre Augen nicht bestimmt war, und das zu fortgeschrittener Stunde, als sie nicht hätten auf sein sollen. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er daran dachte, wie er den Kopf gehoben und in dem grellen Licht seinen Cousin mit undurchdringlicher, abweisender Miene gesehen hatte. Und dann seine ersten Worte: »Eure Mutter ist gegangen, damit hatten wir schon seit einiger Zeit gerechnet. Ihr sollt jetzt zu uns. Kommt mit.« Und dann der Anblick dieses schmalen, gebeugten Rückens, der sie in das Unwetter hinausführte. Ich war vier, und Doug war sechs.
Er versuchte, die Erinnerung abzuschütteln, obwohl er sich fragte, weshalb sie nie über ihre richtige Mutter gesprochen hatten. Er starrte aus dem Fenster des Aufenthaltsraums und versuchte vergeblich, sich ihr Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Er erinnerte sich nur, dass ihr jede Zärtlichkeit abging und dass sie ständig wütend war. Sie unterschied sich nicht allzu sehr von der Cousine, die ihre Rolle übernommen hatte.
Ihr
Bild hatte er sofort vor Augen: das dünne braune Haar zu einem strengen Dutt zurückgekämmt, der zu ihrem leuchtend rot geschminkten vollen Mund, der sich nie zu einem Lächeln verzog, nicht passte. Später, im Wagen zum Trauermarschtakt der Scheibenwischer, hatte sich diese neue Mutter zu ihnen umgedreht und gesagt: »Wir sind jetzt eure Eltern. Ich bin Mom. Er ist Dad. Über andere Eltern wird nicht gesprochen.«
Er erinnerte sich noch, wie seine eigene Therapeutin ihn einmal gefragt hatte: »Aber was ist denn mit Ihrer leiblichen Mutter passiert?«
Und seine Antwort: »Das hab ich doch selbst nie richtig erfahren.«
Die Therapeutin hatte geschwiegen. Ein klassisches Schweigen des Zweifels; er hatte es selbst schon tausendmal angewendet.
Was war passiert?, fragte er sich.
Ganz einfach: Sie war weg. Tot. Davongelaufen, was machte das schon für einen Unterschied? Sie mussten beide im Drugstore ihrer neuen Eltern arbeiten. Er musste die Arzneifläschchen reinigen und die Reihen verschreibungspflichtiger Medikamente fein säuberlich auf den Regalen ordnen, und so war er Arzt geworden. Doug musste die Dunkelkammer reinigen, später auch die Entwicklerflüssigkeit mischen und schließlich, als er älter wurde, selbst entwickeln, also wurde er Fotograf. So einfach war das.
Es ist was aus uns geworden, sagte er sich.
Aber was ist tatsächlich aus uns geworden?
Nichts ist einfach.
Das wusste er sehr wohl. Es war das Erste, was er als Assistenzarzt gelernt hatte. Mentale Befindlichkeiten mochten zunächst klar und eindeutig erscheinen, doch selten blieb es dabei. Wenn die Erkenntnisse der Psychiatrie einen Sinn ergaben – die Theorien, Diagnosen, Behandlungspläne –, schien ihm das Spektrum realen Verhaltens seltsam rätselhaft. Er begriff zwar, weshalb die Lost Boys im klinischen Sinne Sexualstraftäter waren, doch auf einer höheren, grundsätzlicheren Ebene entging ihm das Wieso und Warum. Er konnte sich die physische Kraft vorstellen, die nötig war, um ein Opfer am Arm zu packen und ihm Gewalt anzutun, doch für die Willenskraft,die dabei ausschlaggebend war, fehlte ihm die Phantasie.
Er schüttelte den Kopf.
Doug versteht reale Dinge, dachte er. Ich verstehe Theorien. Ich habe überlebt, dachte er. Verflucht, wir haben beide überlebt. Wir haben es zu etwas gebracht. Es geht uns verdammt gut. Dann kam ihm der Gedanke, wie
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