Der Fotograf
Hunger zu beklagen. Es wurde ein Ritual daraus: Die Decke zurückschlagen, in die Pantoffeln und den am Fußende liegenden Bademantel schlüpfen. »Ich komme«, hatte sie dann stets laut genug versichert, damit es das Baby, aber auch ihre Schwester hörte und wusste, dass sie weiterschlafen durfte. »Bin gleich bei dir, und jetzt sch, sch, sch«, hatte sie dann in einem beruhigenden Rhythmus geflüstert.
»Ich komme«, sagte sie nun laut, doch es war niemand da, um sie zu hören.
Sie ging die Treppe hinunter und summte eine Melodie.
9.
Als Erstes kaufte sie drei billige Korkbretter und eine grüne Kinderschultafel. Sie nahm beides mit in ihre Wohnung und postierte alles neben ihrem Schreibtisch. Auf ein Klebeband schrieb sie SUSAN und heftete es an das erste Brett; RHOTZBADEGH kam auf das zweite und ANDERE auf das dritte. Die Tafel stellte sie in der Mitte auf. Ächzend schob sie ein Bücherregal zur Seite, um mehr Platz zu schaffen. Sie nahm Reißzwecken und befestigte damit eine Reihe Farbfotos vom Leichenfundort mitten auf Susans Brett. Dann nahm sie die Liste mit dem sichergestellten Beweismaterialsowie die Aussage der beiden schwulen Männer, welche die Leiche gefunden hatten, und hängte sie auf. Auch das Rhotzbadegh-Brett füllte sich schnell mit den Beweismitteln aus seinem Haus sowie den Zeitungsartikeln, die er gesammelt hatte. Sie schnappte sich ein Foto von ihm und heftete es ebenfalls an, so dass sie es vor Augen hatte.
Diese Aktivitäten hatten etwas seltsam Befreiendes. Sei eine Ermittlerin, forderte sie sich auf. Ich will einen sauberen Fall.
Aber zuerst durchlöchere den des Morddezernats.
Der Studententreff der Universität war höhlenartig düster. Es bereitete wenig Mühe, die Leute zu finden, mit denen Susan an dem Abend vor ihrem Tod zusammengewesen war. Es war Prüfungszeit, und sie wollten reden. Schwatzen, genauer gesagt, alles, was eine Ablenkung vom Pauken und Büffeln bot, auch wenn ihre gebräunten Gesichter eher von Sonne und Strand als von der staubigen Luft der Bibliothek kündeten.
»Wie können Sie so sicher sein?«, fragte Detective Barren eine Studentin, eine dunkelhaarige junge Frau mit der nervösen Angewohnheit, jemanden direkt anzusehen, solange sie eine Frage anhörte, den Blick jedoch unruhig schweifen zu lassen, sobald sie antwortete. Muss ihre Professoren in den Wahnsinn treiben, dachte Detective Barren. »Woher wollen Sie wissen, dass Susan an dem Abend um elf Uhr verschwand?«
»Weil wir verabredet hatten, um elf zu gehen. Es war wichtig. Wir hatten beide am nächsten Morgen schon früh Seminare, und wir hatten uns gegenseitig versprochen, uns an die Zeit zu halten, egal wie gut wir uns amüsierten. Ich musste sie daran erinnern oder sie mich. Wir haben getanzt, und ich habe sie aus den Augen verloren. Aber um halb elf fing ich an, mich richtig nach ihr umzusehen, und um viertel vor elf habe ich die Jungs gebeten, mir bei der Suche zu helfen. Teddy ist sogarzum Parkplatz raus und ums ganze Gebäude gelaufen. Wir konnten sie nicht verfehlen, selbst in der Menge nicht. Ich meine, Susan, Sie wissen ja, die war sowieso nicht so leicht zu übersehen. Die konnte sich nicht verstecken, selbst wenn es hier drinnen richtig voll wurde. So war sie eben.«
Ich weiß, dachte Detective Barren.
»Und Ihnen ist niemand aufgefallen, mit dem sie zusammen war, ich meine, jemand, den Sie nicht kannten?«
»Na ja, das Problem ist, dass wir Semesteranfang hatten. Alle waren neu. Und fremd. Es waren Erstsemester und frisch Graduierte dabei. Da kamen auch ein paar Fakultätsmitglieder, aber die sind früh gegangen. Wissen Sie, alles war neu, aufregend und freundschaftlich. Aber ich habe sie mit niemandem gesehen, der irgendwie verdächtig wirkte, falls Sie das meinen.«
Detective Barren seufzte und wandte sich an einen weiteren Studenten, einen riesengroßen, muskulösen jungen Mann in T-Shirt. Sie wunderte sich, dass er in dem tiefgekühlten Raum nicht fror.
»Erzählen Sie mir, woher Sie wissen, dass Rhotzbadegh bis Mitternacht hier war.«
»Hab ich den anderen Detectives schon gesagt, aber ich geh’s gerne noch mal durch. Es ist eigentlich ganz einfach. Ich hatte um Mitternacht ein Date …«
»Mitternacht?«
»Klar. Klingt romantisch, nicht? Es war nur, na ja, sie hatte ein Seminar über Filmgeschichte belegt, und sie mussten sich so ’nen russischen Streifen ansehen. Der war lang, richtig lang. Sie sollte erst nach elf rauskommen, also haben wir uns hier verabredet. Ich
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