Der Fotograf
Knie, den Deckel auf. Sie suchte nach einem speziellen Bild.
Die Fotos von ihr selbst blätterte sie um, ebenso die von Susan und ihren Eltern. Nur bei einigen blieb sie einen Moment hängen – einer Geburtstagsparty hier, einer Abschlussfeier dort. Sie schwelgte in Erinnerungen und fühlte sich getröstet. Schließlich fand sie das Bild, nach dem sie gesucht hatte.
Es war ein einfacher Schnappschuss von Detective Barren im Alter von einundzwanzig, lachend zwischen John Barren und ihrem Vater. Der Sommer, bevor wir geheiratet haben, dachte sie, der Sommer, in dem Dad gestorben ist. Sie betrachtete den Hintergrund – eine endlose Weite aus blaugrünen Wellen, diestetig und gemächlich an die Küste von Jersey schlugen. Auf dem Bild trugen alle Badesachen, und Detective Barren erinnerte sich, wie die beiden Männer sie erbarmungslos damit aufgezogen hatten, dass sie nicht schwimmen konnte, aber trotzdem nicht genug vom Strand bekommen konnte. Sie dachte daran, wie sie friedlich und entspannt stundenlang in der Sonne gelegen und gelesen hatte. Wenn es ihr unerträglich heiß wurde, nahm sie einen Plastikeimer mit ans Wasser, ließ sich in den feuchten Sand fallen und wartete, bis eine etwas größere Welle bis zu ihr schwappte. Der kühle Schaum kräuselte um ihre Zehen und den Po und erfrischte sie. Wenn nötig, nahm sie den Eimer und goss ihn sich einfach über den Kopf. John lachte sie aus, er zeigte immer wieder aufs Meer und flehte sie an, doch schwimmen zu lernen, aber nicht im Ernst, denn er wusste, dass es zwecklos war, egal wie lächerlich sie sich machte.
Dass sie nicht schwamm, hatte einen einfachen Grund.
Sie war noch jung, fast noch ein Kleinkind von fünf Jahren. Sie schloss die Augen und spürte, wie bei dem Gedanken in ihr das altvertraute Angstgefühl hochstieg, wie jedes Mal, wenn sie sich an diesen Vorfall erinnerte. Ihr Herz schien einen Moment lang schneller zu schlagen, ihr Rücken fühlte sich unangenehm feucht an, und ihr Magen zog sich zusammen. Sie musste wieder einmal feststellen, welche Macht die Angst über uns haben kann, wenn selbst eine Erinnerung nach Jahrzehnten noch solche Gefühle auslöste. Sie hatte mit ihrer Mutter am Strand gesessen; ihr Vater ließ sich von den Wellen an Land tragen, um sich mit dem kindlichen Überschwang, den er im Wasser immer an den Tag legte, wieder kopfüber ins Wasser zu stürzen. Ihre Mutter hatte sie angesehen und gesagt: »Merce, Schätzchen, geh und hol deinen Vater. Sag ihm, dass es Zeit zum Essen ist.«
Es war eine so kleine, schlichte Bitte; selbst jetzt noch, hier in ihrer Wohnung, kam es ihr so einfach vor.
Detective Barren schloss die Augen und erinnerte sich sonnenklar an jeden Schritt. Sie war aufgesprungen und zum Wasser hinuntergerannt, ohne einen Moment ihren Vater aus den Augen zu lassen, der sich gerade umdrehte und einen großen Brecher erwischte, von dem er sich tragen ließ.
Als sie schon den Mund aufmachte, um ihn zu rufen, schaute sie auf und erstarrte vor unaussprechlicher Angst, als sie sah, dass sie mitten in eine große, sich überschlagende Welle hineingelaufen war. Die Woge brach über sie herein und schleuderte sie auf den Rücken. Von der Wucht des Aufpralls blieb ihrer kleinen Kinderbrust die Luft weg. Das Wasser wurde dunkelgrün, dann schwarz, und die Welt schien ausgelöscht. Sie hatte mit aller Macht gestrampelt und versucht, aufzutauchen, doch dann war plötzlich etwas Großes, Schweres auf ihr gelandet und hatte sich zwischen sie und die Sonne geschoben. Mit dem sattsam vertrauten Unbehagen spürte sie wieder, wie der Sand ihren Rücken aufschürfte. Alles hatte sich um sie gedreht, ihr wurde schwarz vor Augen, ihr Lunge brannte, und das Dunkel drückte ihr das Herz zusammen. Sie hatte keine Ahnung vom Tod, glaubte jedoch in diesem unglaublich kurzen, endlosen Moment, dass er sie verschlang.
Dann plötzlich wurde sie hochgerissen und ans Licht gezogen, während sie nach Atem rang.
Es war ihr Vater.
Sein Wellenritt hatte ihn direkt über sie getragen. Er hatte sie niedergedrückt und dann hochgezogen.
Sie erinnerte sich an ein paar Tränen, die in der Hitze des Nachmittags schnell trockneten. Sie hatte an diesem Tag in sicherem Abstand vom Wasser im Sand gespielt. Doch als siein der Nacht unter der Bettdecke lag und die Dunkelheit in ihr Zimmer drang, hatte sie bitterlich geweint und sich geschworen, nie wieder dem Meer zu trauen, nie wieder spüren zu müssen, wie ihr die Wogen über dem Kopf
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