Der Fotograf
was«, erklärte er. »Wirklich. Manchmal finde ich diese Fragen furchtbar frustrierend.«
»Glauben Sie, dass Rhotzbadegh …«
Er fiel ihr ins Wort. »Selbstverständlich.« Er starrte sie an.
»Wer denn sonst? Der Kerl hatte den Drang zu zerstören. Er war da. Es entspricht ziemlich genau seinem sonstigen Tatmuster. Er hat sie getötet … so viel ist gewiss, da bin ich mir sicher.«
»Aber?«
»Aber es ist nicht genau so abgelaufen, wie die glauben.«
»Haben Sie je mit den Kollegen darüber gesprochen?«
Der Gerichtsmediziner schnaubte wieder.
»Selbstverständlich!«
Er wandte sich um, zog neue Handschuhe über und kehrte zu seiner Leiche auf dem Untersuchungstisch zurück. Er spähte tief in die Körperhöhle hinein, dann sagte er: »Das Problem ist, dass nichts die Version Ihrer Kollegen eindeutig widerlegt. Und was macht es letztlich für einen Unterschied? Er war es, so sicher wie ich hier stehe und atme und dieser junge Kerl hier tot daliegt …« Er stupste die Leiche mehrmals mit dem Finger an, als wollte er testen, ob es stimmte.
»Aber?«
»Aber. Aber. Aber. Aber ich bin ein Mensch, der Ordnung schätzt. So ist das nun mal mit dem Körper: Nimm ihm was weg, und voilà! Er funktioniert nicht mehr richtig. Verstauchen Sie sich den Knöchel, hinken Sie. Kriegen Sie eine Kugel ins Herz, sterben Sie. Alles, was das Gleichgewicht und die Ordnung durcheinanderbringt, zeigt Wirkung. Ich hasse solche vertrackten Sachen, wirklich. Deshalb weiß ich einen sauberen Schuss zu schätzen. Man gräbt ein bisschen herum und Bingo! Da haben wir die Kugel. Keinerlei Zweifel. Er ist tot. Hier ist der Grund. Kann offene Fragen nicht leiden …«
Wieder zögerte er.
»Wissen Sie, es macht letztlich keinen Unterschied, und vielleicht spinne ich ja auch. Das hat mir jedenfalls der Staatsanwalt bescheinigt.« Er sah über die Schulter hinweg Detective Barren an. »Wussten Sie«, fügte er ein wenig traurig hinzu, »dass zwei Gerichtsmediziner, denen Sie dieselben Fakten vorlegen, zu verschiedenen Schlüssen gelangen? Jedes Mal. Können Sie drauf wetten. Die meisten Leute denken, bei uns gäbe es nicht dieselbe diagnostische Bandbreite, das Rätselraten, was weiß ich, nur weil wir es mit toten statt lebenden Patienten zu tun haben, aber das stimmt nicht.«
Er holte tief Luft.
»Das deprimiert mich.«
Der Mediziner schien in den geöffneten Brustkorb seiner Leiche zu schauen.
Detective Barren wartete einen Moment, bevor sie fragte:
»Vierzehn Zentimeter?«
»Richtig, was immer man daraus schließen mag.«
Sie drehte sich um und wollte gehen.
»Und das beweist noch gar nichts«, rief er ihr hinterher. An der Tür blickte sie sich noch einmal um und sah, wie sich der Mann über die sterblichen Überreste des Mannes beugte und in seine Arbeit vertiefte.
In ihrer Wohnung goss sich Detective Barren an diesem Abend ein Glas Rotwein ein und dachte an die Worte des Verkäufers im Spirituosengeschäft, der ihr versichert hatte, dieser kalifornische Cabernet könne durchaus mit denen mithalten, die doppelt so teuer waren. Sie hatte ihm nicht verraten, dass sie den Unterschied kaum schmecken würde und außerdem gerne einen Eiswürfel in ihr Glas warf. Nach dem Besuch im Leichenschauhaus hatte sie sich ausgezogen und ausgiebig geduscht. Sie hatte sich – krankhaft lange, witzelte sie – geschrubbt,um den Gestank aus dem Totenzimmer abzuwaschen. Eigentlich kann man es nicht riechen, hatte sie sich gesagt, als sie aus der Dusche trat. Dann hatte sie schnuppernd die Luft eingesogen und mit lauter Stimme erklärt: »Zum Teufel, und ob man es nicht riechen kann.«
Sie stand nackt in ihrem Zimmer und nippte an ihrem Wein. Sie merkte, wie der Alkohol warm durch ihren Körper rieselte, und atmete tief aus. Einen Moment lang hatte sie Lust, nackt zu bleiben, sämtliche Lampen auszumachen und im Dunkeln eine sanfte Brise auf der Haut zu genießen.
Bei der Vorstellung musste sie kichern. Es war lange her, dass sie etwas Spontanes, Unkonventionelles getan hatte, irgendetwas, um ihr ins Gedächtnis zu rufen, dass die Welt nicht nur aus Mord und Totschlag bestand. Dann schüttelte sie den Kopf und fand eine Shorts sowie ein altes Miami-Dolphins-T-Shirt aus einem ihrer Super-Bowl-Jahre und schlüpfte hinein.
Sie tappte barfuß ins Wohnzimmer und nahm die Flasche nebst Weinglas mit. Sie trat an ihr Bücherregal und zog ein ledergebundenes Fotoalbum heraus. Dann setzte sie sich in einen Sessel und schlug, das Glas auf dem
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