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Der Fremde aus dem Meer

Titel: Der Fremde aus dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy J. Fetzer
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an die sie sich nur undeutlich erinnerte. Sie sah gepflegte, schlanke Hände, Hände einer Frau, die sich ihr entgegenstreckten und sie berührten. Sie liebt mich, dachte sie, und strengte sich an, mehr zu sehen. Sie sah ein dunkelgrünes Kleid mit Bändern und Spitze. Und etwas hell Glänzendes, so funkelnd wie Quecksilber und so rot wie eine Rose im Frühling. Eine tiefe Stimme flüsterte ihr zärtlich zu, summte ein Wiegenlied.
    Dann erblickte sie ein Gesicht, flüchtig nur, verschwommen, einer Nebelschwade gleich. Sie wollte das Traumgebilde um jeden Preis festhalten.
    Es entschwand jedoch, verwehte wie ein Windhauch, löste sich auf.
    Aber dann war es wieder da, dunkel, vertraut. Nahm ihr die Luft.
    Furcht und Schrecken durchpulsten sie. Sie war nicht allein. Ihre Arme waren festgebunden, und sie konnte nicht schreien, konnte ihre Lippen nicht bewegen. Unter ihren Kleidern rann der Schweiß, Tränen flossen über ihre Wangen. Schwere Schritte bewegten sich im selben Rhythmus wie die Luft, die in ihre Lungen hinein- und hinausgedrückt wurde. Ein schwacher Modergeruch stieg ihr in die Nase. Der Wind heulte und pfiff, und es zog wie durch einen Ritz in einer Fensterscheibe. Hände griffen nach ihr, packten sie fest und hart an. Und sie fürchtete die Drohung. Dann kamen die von tödlichem Hass erfüllten Worte.
    Sie wollten dich nicht wiederhaben.
    Ich werde gut sein.
    Sie wollten dich nicht zurückhaben.
    Ein Schluchzer steckte in ihrer Kehle fest. Ein stechender Schmerz fuhr ihr in die Knöchel, und sie lief und lief, stolperte, lief weiter, außer Atem, voller Angst. Sie hörte schwere Schritte hinter sich, und das Geräusch kam näher, immer näher.
    Sie war allein in der Dunkelheit, jedes Geräusch hallte hohl wider, es stank nach Abfall.
    Warum wollten sie mich nicht wiederhaben?
    Wieder roch es nach Kirschen. Sie schrie, verwirrt und elend, hin- und hergerissen zwischen lähmender Furcht und tiefer Enttäuschung über zurückgewiesene, bedingungslose Liebe.
    Hände glitten sanft und zärtlich über ihren Rücken, eine tiefe Stimme, eine andere Stimme, rief ihren Namen. Sie riss die Augen auf, ihr Körper so fest gespannt wie ein Bogen. Verzweifelt rang sie nach Luft.
    »Penelope. Ich bin’s, Liebste.« Er sah unendlich traurig aus, als er über ihre tränenfeuchten Wangen strich.
    »Ramsey«, brachte sie hervor. Erneut nach Luft ringend, klammerte sie sich an ihn.
    »Oh, Liebste.« Er barg sie in seinen starken Armen. »Es bringt mich um, dich so leiden zu sehen.«
    »Nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf und setzte sich zurück. »Dieses Mal war es anders.« Er wartete, bis sie Luft geholt hatte und benetzte ihre Lippen. »Es hörte nicht auf, nach Kirschen zu riechen«, stieß sie hervor. »Und ich habe ein Gesicht gesehen.« Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet. »Ein vertrautes Gesicht.« Vor Aufregung wurde ihre Stimme ganz eifrig, als sie seine Schultern umklammerte. »Früher habe ich nie ein Gesicht gesehen.«
    Ramsey verstand, was dieser Traum wert war. Nie bedeutete für sie mehr als fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens.
    Sie ließ sich jäh zurückfallen, stopfte sich ein Kissen unter den Kopf, strich sich schniefend über die Wangen. Ein Taschentuch tauchte vor ihren Augen auf. Lächelnd nahm sie es und trocknete ihre Tränen.
    »Sag mir, was alles anders war.«
    Die Wärme seines Körpers tröstete und beruhigte sie. »Es ist immer so undeutlich, nur Gefühle.« Sie sprach, den Blick an die Decke gerichtet. »Schmerz, Verlust, Angst.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn ich mich sicher fühlte, war das immer nur ein Gefühl, nie ein klares Bild.« Sie drehte ihm den Kopf zu. »Wie Gespenster. Sie sind da, aber du weißt nicht, warum und wozu.« Er stützte sich mit dem Arm auf. Sie streckte ihre Hand aus und strich ihm das Haar aus dem Gesicht hinter das Ohr. »Die Träume quälen mich so sehr, besonders weil ich weiß, dass ich am Anfang so glücklich bin. Und dann fühle ich mich schuldig, als hätte ich etwas getan, was dieses Glück zerstört.«
    »Und jetzt?«
    »Oh, es ist immer das Gleiche.« Sie richtete ihren Blick wieder zur Decke, die sich immer noch zu drehen schien. »Aber ich habe Hände gesehen, die Hand einer Frau, den Kragen eines Kleides und etwas Glitzerndes.« Unsicher hob sie die Schultern. »Und da war die summende Stimme eines Mannes. Dann wiederholen sich die Träume meistens.«
    »Was wiederholt sich denn meistens? Du hast doch gesagt, du erinnerst dich nur an

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