Der Fremde aus dem Meer
Gefühle.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, sich auf Einzelheiten zu konzentrieren, die ihr entfallen waren. »Es riecht nach Schmutz und altem Holz. Es ist, als ob der Wind durch ein halb geöffnetes Fenster heult.« Die Worte brachen aus ihr heraus. »Ich bin festgebunden und kann nicht reden, weil etwas in meinem Mund steckt. Und das macht mich elend und benommen.«
»Bist du gefesselt und geknebelt?«, fragte er vorsichtig. Sie nickte. Das passte genau.
»Es ist, als ob mich jemand in den Bauch schlägt, und diese Schläge erfolgen im Rhythmus wie die Schritte. Die Schritte hören sich an, als wenn man allein in eine Kirche geht. Es ist wie ein Echo, weißt du?«
»Kann es sein, dass dich jemand über der Schulter trägt und dich in etwas hineinschleppt, das offen und leer ist?«
»Ein Lagerhaus, meinst du?« Ihr Blick schnellte zu ihm. »Aber das würde ja bedeuten ...«
Sie presste die Lippen fest zusammen, und seine sanfte Stimme sagte tröstend: »Sei ganz ruhig, Liebste, du wirst dich wieder daran erinnern. Kämpfe nur nicht dagegen an.«
Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. »O Gott, Ramsey«, flüsterte sie, und ihre Stimme brach. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich wurde entführt.« Mit einem Ruck setzte sie sich auf, warf die Decken beiseite und starrte auf ihren Fußknöchel. Mit den Fingern fuhr sie über die dunkle Narbe und erinnerte sich. »Ich bin aus einem Kellerfenster geklettert und blieb mit einem Fuß an Metall hängen. Es tat weh, und ich schrie. Das alarmierte sie.« Ihre Stimme war voller Hass. »Und ich habe den Schuh weggestoßen, um freizukommen. Aber der hier«, sie berührte den anderen Knöchel, »trug noch einen Schuh. Einen weiß gepunkteten Sportschuh«, sagte sie in das dunkle Zimmer hinein. »Ich lief und lief und fiel hin, dann versteckte ich mich in einem Mülleimer. Ich wusste, dass ich still sein musste. Ganz still«, flüsterte sie mit unheimlicher Stimme, als würde jemand lauschen. »Wenn sie mich nicht zurückhaben wollten, würde ich auch nicht gehen. Ich würde nicht zu ihnen gehen und ihnen etwas erzählen. Ich wollte mich nicht daran erinnern, wie weh es tut, verlassen zu werden.« Ihre Lippen zitterten. Sie schniefte, rieb sich die Arme und schaukelte vor und zurück. »O Gott, o Gott«, schluchzte sie leise. »Ich wurde nicht verlassen. Ich wurde entführt. Sie haben mir alles genommen. Verdammt noch mal, sie haben mir mein Leben genommen.«
»Penelope.«
Sie hob eine Hand, hielt ihn auf Abstand, sah ihn nicht an. »Ich weiß es, Ramsey, ich weiß es.«
Ramsey wartete mit angehaltenem Atem. Die Trauer in ihrer Stimme schnitt ihm ins Herz.
»Er bekam einen blutigen Schuh zurück. Das Glänzende war die Rote Lady. Er sagte, sie habe den Stein nie abgenommen.« Der Ton ihrer Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Die unterdrückten Schreie blieben ihr in der Kehle stecken, beugten ihre Schultern in tiefem Schmerz. »Oh, lieber Gott.« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte hilflos. Die bittere Wut und Einsamkeit langer Jahre brachen aus ihr hervor. »Ich bin eine Blackwell. Ich bin Alexanders Tochter.«
36
Penny starrte Ramsey über den Frühstückstisch hinweg an.
Als sie letzte Nacht Alexander hatte anrufen wollen, hatte Ramsey ihr gesagt, dass ein Anruf um drei Uhr morgens ein Verstoß gegen die guten Sitten sei, und hatte sie schnell und wild geliebt. Als sie sich selbst gequält hatte mit Vorstellungen über das Leben, das ihr vorenthalten worden war, hatte er ihr ein neues versprochen. Es sollte erfüllt sein mit erregenden Ereignissen und unendlicher Liebe. Dann hatte er sie wieder geliebt. Und wieder. Bis sie nichts anderes mehr tun konnte, als mit einem Seufzer in einen traumlosen Schlaf hinüberzugleiten.
»Du hast es gewusst.«
Ramsey blickte von seiner Müslischüssel auf. »Erst nachdem ich die Geschichte von ihm gehört hatte. Ja, dann wusste ich es.« Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. »Du siehst deiner Mutter unheimlich ähnlich.«
Krachend zerschellte ein Teller auf dem Fußboden, und als sie aufblickten, sahen sie in Margarets bleiches Gesicht. »Ich ... ich ...«
Penny verließ ihren Stuhl und drängte sie weg von dem zerbrochenen Geschirr. »Was ist los?«, sagte sie stirnrunzelnd und eindringlich, während sie Margaret auf einen Stuhl drückte.
»Es tut mir Leid, ich ...«
Tränen traten ihr in die Augen. Penny ging in die Knie und umfasste ihre Hände. Mein Gott,
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